Corona-Anspannung Muskeln reagieren auf Stress «so schnell wie beim Schreckreflex»

Von Sulamith Ehrensperger

4.2.2021

Der Körper antwortet bei Stress sofort: Er schüttet Hormone aus und spannt Muskelgruppen an. Wenn die Anspannung dauerhaft anhält, kann dies gesundheitliche Folgen haben. 
Der Körper antwortet bei Stress sofort: Er schüttet Hormone aus und spannt Muskelgruppen an. Wenn die Anspannung dauerhaft anhält, kann dies gesundheitliche Folgen haben. 
Bild: Romina Farías, Unsplash

Der Rücken schmerzt, der Kopf tut weh. Schmerzen haben in der Pandemie zugenommen. Im Gespräch sagt Kurt Mosetter, warum sie auch durch Stress und Emotionen entstehen können – und wie man sie los wird.

Kurt Mosetter ist Gründer der Myoreflextherapie, eine alternativmedizinische Behandlung gegen Funktionsstörungen des Bewegungsapparates. 

Herr Mosetter, welche Spuren hinterlässt die Corona-Krise und ihre Folgen in unseren Körpern?

Die Angst, die Unsicherheit und der Stress machen nicht nur psychisch, sondern auch körperlich zu schaffen. Im Praxisalltag beobachten wir, dass Beschwerden und Schmerzen stark zunehmen und im Vergleich zum ersten Lockdown tiefgreifender sind. Das widerspiegelt sich in den Muskeln- Faszien-Systemen: Immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene klagen über Muskel- und Gelenkbeschwerden, Rückenschmerzen und Spannungskopfschmerzen.

Sitzt uns der Corona-Stress sprichwörtlich im Nacken?

Er kann sich tatsächlich in Nacken- und Rückenschmerzen, schmerzenden Gelenken, Kopfweh oder Migräne äussern. Bei älteren Menschen kann es auch zu Schwindel, Zittern und Gedächtnisstörungen kommen. Kinder haben eher Tic-Störungen und Bauchschmerzen. Das Problem ist, dass Bewegungsmangel, Angst und schlechter Schlaf die Muskelspannung verstärken. Viele haben bereits beim Aufstehen Schmerzen und fühlen sich erschöpft. Man merkt, dass der Stress auf breiter Front durchbricht.

Warum schlägt uns der Stress derart auf die Muskeln?

Zur Person: Kurt Mosetter
Kurt Mosetter , Portrait, Gründer Myoreflextherapie, Sportarzt, Arzt
Markus Gilliar/GES

Kurt Mosetter leitet das Zentrum für interdisziplinäre Therapie (ZiT) in Konstanz, Gutach im Schwarzwald und Freiburg im Breisgau. Er entwickelte in den späten 80er Jahren das Konzept der Myoreflextherapie, eine Behandlung bei Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungsapparates. Er war unter Jürgen Klinsmann Teamarzt der US-Nationalmannschaft und baute mit Ralf Rangnick die medizinische Abteilung beim Fussball- Bundesligaclub RB Leipzig auf.

Das geht so schnell wie beim Schreckreflex – ein in der Evolution angelegtes Muster. Nach 20 Millisekunden, so schnell können wir gar nicht denken, weiten sich die Augen und die Kaumuskeln spannen an. Als Reaktion können Aggression- oder Fluchtverhalten ausgelöst werden, also kämpfen oder flüchten. Für beide Verhaltensweisen brauchen wir die Muskeln. Das Problem: Gegen Corona-Viren hilft weder kämpfen noch davonlaufen. Wir sind der Situation ausgeliefert. Somit bleibt die Spannung im Körper stecken. Viele Menschen beschreiben sich handlungsunfähig zu fühlen, beinahe wie eingefroren. Manche berichten über ein Erleben wie im Totstellreflex.

Was sind die mögliche Langzeitfolgen, wenn dieser Stress im Körper stecken bleibt?

Am Anfang sind es nur die Muskeln, aber mit der Zeit werden die Gelenke gefesselt. Das heisst, erst schmerzen die Muskeln, dann auch der Rücken und die Gelenke. Läuft beispielsweise das Hüftgelenk nicht mehr rund, wird es falsch belastet. Das hat Folgen auf das Knie, die Wirbelsäule, das Kopfgelenk und eigentlich auf den ganzen Körper. Aus ein bisschen Spannung können sich tatsächlich grössere Störungen am Bewegungsapparat entwickeln, wenn sich der Stress im Körper festsetzt und chronisch wird. Und hier müssen wir aufpassen, dass sich nicht ein Teufelskreis entwickelt: Wenn wir uns zu wenig bewegen, werden wir unbeweglich, und bewegen uns noch weniger. Lieber zu früh als zu spät sollten wir dann eine passende Physiotherapie aufsuchen, damit der Körper sich schmerzfrei und beweglich erhält. Auch die Myoreflextherapie ist hier natürlich sehr hilfreich.

Muskeln sind ja nicht nur dazu da, dass wir uns halten und bewegen können. Wie können sie uns helfen, den Stress wieder loszuwerden?

Frei bewegte, geschmeidige und entspannte Muskeln dienen auch den Nervenzell-Netzwerken im Gehirn für die Verschaltung von positiven Gefühlen. Die Muskeln und Faszien beinhalten ein eigenes Sinnessystem. Neben dem Muskelsinn spielt die sogenannte Interozeption eine grosse Rolle. Mit anderen Worten ist das unser innerer Selbstsinn. Er beinhaltet die Wahrnehmungen unserer Körper- und Gefühlslandschaft. Das heisst, auch die Gefühle sind hier eingebettet und drücken sich dort aus. In der Angst kauert man sich zusammen. Ist jemand immer klein und angespannt, macht das etwas mit seinem Körperbild. Es löst eine bestimmte Emotion aus. Muskeln sind also eng verbandelt mit unseren Emotionen und der Psyche. Weiter sind sie auch unser Handlungsorgan. Sie richten uns aus und sind an viele vitale Bedürfnisse und Verhaltensweisen gekoppelt. Nun sind wir, in Zeiten von Corona, in unserem Verhalten eingeschränkt. Wir können nicht immer dahin, wo wir wollen. Wir können nicht einfach davonrennen. Darüber hinaus produzieren die Muskeln viele hundert Muskelhormone, sogenannte Myokine. Diese Botenstoffe sind Alleskönner im Sinne eines Reparaturwerkzeugkastens. Sie werden aber nur gebildet, wenn man sich bewegt. Wenn man einrostet, fehlt die Hilfe dieser Muskelhormone in nahezu allen Organfunktionen.

Und genau diese Bewegung fehlt vielen zu Zeiten von Homeoffice und Isolation.

Das ist so. Sie können sich vorstellen, dass die Muskeln wie ein Dynamo sind, wenn man sie bewegt. Dieser lädt die Batterie von Muskelhormonen. Diese Myokine sind wichtig für die Leistungen des Gehirns, des Gedächtnisses, für gesunde Emotionen, das Selbstbewusstsein, aber auch für einen gesunden Stoffwechsel sowie die Knochen, die Haut und den Darm. Wir sehen, dass einige dieser Muskelhormone auch entscheidend sind für unsere Immunkompetenz. Was aber, wenn diese erstarren, weil wir uns zu wenig bewegen? Dann werden viele wichtige Muskelhormone nicht mehr ausgeschüttet. Die Anzahl Myokine geht zurück. Die Muskeln bauen ab und das Fett nimmt zu. Muskelzellen und Myokine wirken anti-entzündlich, immunregulierend und schmerzhemmend. Fettzellen hingegen stellen die Weichen auf Entzündungen, Stoffwechsel-Sackgassen und Schmerzen.

Wir sollten uns also bewegen, um gesund und glücklich zu sein, sind aber durch die Corona-Massnahmen in unserem Bewegungsradius eingeschränkt. Eine paradoxe Situation.

Genau, und diese paradoxe Situation müssen wir überbrücken. Mit Bewegung und Übungen, die man selber zu Hause machen kann, können wir die Muskeln entstressen. Beispielsweise mit Kraft in der Dehnung  (KiD). Das sind Kräftigungen aus Dehnungspositionen heraus gegen Widerstand – zum Beispiel gegen einen Türrahmen, ein Thera-Band oder die Hände eines Gegenübers. Stresshormone wird man auch los, wenn man sich so oft wie möglich vor der eigenen Haustür bewegt: Spazieren, joggen, velofahren, langlaufen. Damit kann auch der Kopf befreit werden.  



Wie viel Bewegung braucht es, um gesund zu bleiben?

Regelmässig etwas tun ist essenziell. Beispielsweise die häufig genannten 10'000 Schritte täglich. Allerdings erreichen das die wenigsten. Ich empfehle, zweimal am Tag drei Minuten Kraft in der Dehnung zu praktizieren; morgens und abends, wie Zähneputzen auch, etwas für die Muskeln zu tun. Dazu mindestens dreimal pro Woche während 30 bis 45 Minuten ein bisschen ins Schwitzen kommen. Das muss keine exzessive Anstrengung sein. Es reicht moderat zu trainieren und sich wirklich regelmässig zu bewegen.

Welches sind die besten Übungen, um die Corona-Spannung loszuwerden?

Nach langem Sitzen strecken sich die meisten Menschen beim Aufstehen automatisch in die Länge, wie eine Katze. Das Geheimnis von Kraft in der Dehnung ist, dass man nicht nur einen Muskel dehnt, sondern dass man sich aufrichtet, die Arme zur Decke streckt, und aus der Dehnung heraus sich minimal gegen den Widerstand streckt. Ein aktiver Stretch aus der Dehnungsposition heraus. Ein bekanntes Beispiel aus der Tradition des Yoga ist der Sonnengruss: Man richtet sich im Stehen auf, streckt die Arme hoch über den Kopf, und schiebt das Becken vor, ohne ins Hohlkreuz zu gehen, und streckt sich ein bisschen nach hinten. Eine schöne Übung ist auch der «Baum im Wind»: Man steht gerade, schiebt die Hüfte beispielsweise nach links und die Arme über dem Kopf nach rechts. Dies dehnt die Bauchmuskeln, Schultern und Arme. Die Position halten und wenn man kann, mit gestreckten Armen, zum Beispiel, gegen den Türrahmen ein bisschen Widerstand geben. Wichtig ist, dass der Brustkorb aufgedehnt und dabei immer wieder tief ein- und ausgeatmet wird – dies ermöglicht einen kurzen Ausflug in die Entspannung.

Was kann man noch tun, um die Stresstoleranz zu verbessern?

Thai Chi, Qi Gong, Yoga und Pilates sind altbewährte schöne Konzepte, welche den Körper und die Psyche gleichermassen stärken können. In vielen Fällen empfehlen wir auch die Konsultation bei Psycholog*innen sowie psychotherapeutische Unterstützung. Es hilft, sich bewusst zu machen, welche Stärken und Ressourcen einem zur Bewältigung von Krisen zur Verfügung stehen. Das kann Musizieren, Meditieren oder eine ganz eigene Ressource sein. Auch antientzündliche Ernährung, beispielsweise nach dem Glycoplan und genug Schlaf wirken unterstützend. Für viele ist es nicht ganz einfach, den Stress allein loszuwerden. Etwa wenn Betroffene nachts die Zähne zusammenbeissen oder knirschen. In dieser Zeit ist es daher besonders wichtig, sich Hilfe zu holen und den Körper und seine Gefühlslandschaft zu unterstützen, wieder in die Selbstregulation zu kommen. Wenn wir jetzt aktiv bleiben, sind wir bereit, wenn wir wieder in unseren gewohnten Alltag zurückkehren können.

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