Sabine Lüthy «Nach einem Traum war mir klar: Ich muss das Projekt meines Vaters weiterführen»

Von Runa Reinecke

3.2.2021

Sabine Lüthy mit ihrem Vater, Ruedi Lüthy. 
Sabine Lüthy mit ihrem Vater, Ruedi Lüthy. 
Bild: Simon Huber

HIV und nun auch noch das Coronavirus: In Simbabwe entwickelt sich die Situation dramatisch. Wir haben mit Sabine Lüthy, Leiterin der Ruedi Lüthy Foundation, über die Lage im südlichen Afrika, über schwer zu ertragende Eindrücke, aber auch über prägende Momente, die sie mit ihrem Vater verbindet, gesprochen.

Die Coronavirus-Pandemie hebt die Welt aus den Angeln. Im ohnehin von Hunger und Krankheiten wie Aids gebeutelten Simbabwe trifft sie die Ärmsten der Armen besonders hart. Eindrücklich und berührend schildert Sabine Lüthy im Interview mit «blue News», wie sie und ihr Team der Newlands Clinic alles daransetzen, Menschen unter schwierigsten Bedingungen zu helfen.

Sie nimmt uns mit in die 80er- und 90er-Jahre. Zurück in eine Zeit, in der ihr Vater, der Infektiologe und HIV-Experte Ruedi Lüthy, über Aids aufklärte, sich damit gegen Konventionen stellte; und sie erzählt, wie sie ein Traum dazu bewog, eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens zu treffen.

Frau Lüthy, im südlichen Afrika ist die Zahl der Coronavirus-Infektionen seit dem Jahreswechsel drastisch angestiegen. Wie stellt sich die momentane Lage in Simbabwe dar?

Prekär! Ich war bis kurz vor den Weihnachtsferien vor Ort, damals wurde Simbabwe noch mehr oder weniger vom Virus verschont. Aber während der letzten Wochen hat sich die Situation dramatisch verändert. Die Regierung hat deshalb erneut einen strengen Lockdown verordnet. Die wenigen Covid-19-Stationen, die es dort gibt, sind übervoll, und die Menschen sind krank zu Hause, andere sterben.

Ist die neue südafrikanische Virusvariante für den raschen Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich?

Zur Person: Sabine Lüthy
Bild: Simon Huber

Sabine Lüthy (51) studierte Journalismus und Kommunikations-Wissenschaften an der Universität Fribourg. Sie arbeitete als Moderatorin und Redaktorin bei Radio DRS (heute Radio SRF), unter anderem für die Formate «Focus» und «Input». Im Jahr 2012 übernahm sie die Geschäftsleitung der Ruedi Lüthy Foundation, die ihr Vater, der Infektiologe Prof. Dr. med. Ruedi Lüthy, 2003 ins Leben rief, um von HIV betroffenen Menschen in Simbabwe zu helfen. Heute werden in der 2004 eröffneten Newlands Clinic mehr als 7000 Patientinnen und Patienten behandelt. 

Unsere Ärzte vor Ort gehen davon aus, dass die neue Variante bereits in Simbabwe zirkuliert und den Anstieg der Infektionen mit beeinflusst. Belege dafür gibt es aber keine. Schon allein der Nachweis einer Infektion ist nur in den seltensten Fällen möglich, denn es wird kaum getestet, da die Tests sehr teuer sind, und das kann sich so gut wie niemand leisten. Auf die gemeldeten Infektionszahlen kann man sich nicht verlassen.

Das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf steigt mit dem Alter. Doch verglichen mit der Schweiz ist die Bevölkerung Simbabwes jung.

Tatsächlich ist das so, und immer wieder wurde vermutet, der afrikanische Kontinent würde aus diesem Grund vergleichsweise glimpflich davonkommen. In Wahrheit aber wütet das Virus in Südafrika schon seit längerer Zeit. Der grösste Teil der Bevölkerung ist arm und lebt in sehr engen Verhältnissen. Viele sind bereits durch Hunger und andere Krankheiten geschwächt. Die wirklichen Ausmasse dessen werden wir wohl erst in mehreren Wochen oder Monaten sehen.

Können Sie im Moment Patienten in der ‹Newlands Clinic› behandeln?

Ja, die Klinik bleibt offen, allerdings finden die HIV-Konsultationen nur in dringenden Fällen statt. Alle anderen Patienten erhalten ihre überlebenswichtigen HIV-Medikamente auf Vorrat in unserer Apotheke. Für unsere Patienten ist dies extrem wichtig, da sich bei einem Therapie-Unterbruch Resistenzen gegen die Medikamente bilden können. Seit Kurzem können wir selbst auf SARS-CoV-2 testen, und wir kooperieren mit einem externen, auf Covid-19 spezialisierten Arzt, der betroffene Angestellte zu Hause medizinisch betreut. Als HIV-Klinik ist das nicht unser Kernbereich, aber wir müssen in der gegenwärtigen Krise unser Möglichstes tun. Das Leben in Simbabwe ist ohnehin unglaublich schwierig, und jetzt kommt auch noch die Pandemie dazu.

Wer wird – unter normalen Umständen – in Ihrer Einrichtung versorgt?

Das sind HIV-Patienten aus ärmsten Verhältnissen, und zunehmend Patienten mit Komplikationen, die vom öffentlichen Gesundheitssystem nicht mehr adäquat therapiert werden können. Wir behandeln vorrangig Frauen, weil sie innerhalb der Familien eine wichtige Funktion einnehmen, und Kinder, weil sie die Schwächsten der Gesellschaft sind. Menschen mit HIV neigen eher dazu, an Krebs zu erkranken, und deshalb gehört auch die Prävention und Therapie besonders häufig auftretender Krebserkrankungen, wie des Gebärmutterhalskrebses, zu den Behandlungen, die wir anbieten.

Wie viele Menschen sind in Simbabwe von HIV beziehungsweise von Aids betroffen?

Man schätzt, dass etwa 1,4 Millionen Menschen HIV-positiv sind und jedes Jahr 20'000 Menschen an Aids sterben. Nicht alle von ihnen sind gut medikamentös eingestellt, und viele dieser Menschen sind zusätzlich von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und im Moment natürlich auch von Covid-19 betroffen. Hinzu kommt die Stigmatisierung von HIV. Sexualität und die dadurch übertragbaren Krankheiten wie Aids sind ein Tabuthema, über das Betroffene nicht sprechen.

Und doch schaffen Sie es, dieses Tabu zu brechen.

Zumindest teilweise. Zu Beginn seiner Arbeit in Harare hatte mein Vater grösste Mühe damit, Pflegende, aber auch Ärzte davon zu überzeugen, dass man, wenn es erforderlich ist, auch die Genitalien untersuchen muss. Auch das Sprechen über Sexualität und Prävention ist vielen unserer Mitarbeitenden immer noch etwas peinlich. Aber sie tun es, und das auf eine aussergewöhnlich respektvolle und verständnisvolle Art.

Nähe und Vertrautheit: Ein Besuch bei einer Patientin und ihrer Familie vor der Pandemie. 
Nähe und Vertrautheit: Ein Besuch bei einer Patientin und ihrer Familie vor der Pandemie. 
Bild: Simon Huber

Die Pandemie gehört vermutlich zu den grössten Herausforderungen, doch es gab bestimmt weitere, vor die Sie gestellt wurden.

Allerdings, denn als ich vor acht Jahren meinen Job an den Nagel hängte und die Geschäftsleitung der Ruedi Lüthy Foundation übernahm, musste ich vieles von Grund auf neu lernen. Damals war mein Vater noch zu hundert Prozent involviert. Er war der Leiter der Stiftung, gleichzeitig Chef der Klinik, und die grösste Herausforderung war für mich, sein Lebenswerk mit all dem, was er aufgebaut hatte, weiterzuführen. Er hatte praktisch alles allein gemacht, und wir haben sein One-Man-Projekt auf verschiedene Schultern verteilt und die Geschäftsstelle professionalisiert, was uns gelungen ist.

Fragen Sie sich manchmal: ‹Worauf habe ich mich da bloss eingelassen?›

Ja, manchmal, wenn ich vor Ort bin, das grosse Leid und die Verzweiflung der Menschen hautnah erlebe: Menschen, die unter starken Schmerzen leiden, Hunger haben, geschlagen werden und unter erbärmlichen Zuständen leben, auf einem nassen Boden liegen, weil ihre Wellblechhütte kaum Schutz vor Regen bietet. Da frage ich mich manchmal schon, woher ich die Kraft nehmen soll, um das zu verarbeiten und weiterzumachen.

Wie gelingt Ihnen das?

Einerseits tut mir das immer sehr weh. Aber es zeigt mir, dass das, was ich tue, richtig und sinnvoll ist. Andererseits glaube ich, dass wir Menschen sehr gut dafür gerüstet sind, mit schwierigen Situationen umzugehen. Abgesehen davon bin ich nicht diejenige, die dieses Leid am eigenen Leib ertragen muss – ich bin diejenige, die etwas ändern kann. Für mich gibt es nichts Sinnvolleres und Besseres im Leben, und das macht mich glücklich.

Dabei hatten Sie ursprünglich gar nicht vor, das Herzensprojekt Ihres Vaters weiterzuführen. Was stimmte Sie um?

Als ich noch Journalistin bei Radio SRF war, hatte ich eines Nachts einen Traum. Ich träumte, dass ich am Bett meines sterbenden Vaters stand und er mich fragte: ‹Was wird jetzt aus der Klinik?› Ich nahm seine Hand und sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Dann wachte ich auf. Später telefonierte mein Mann mit meinem Vater und erzählte ihm von meinem Traum. Der wiederum sagte, dass er dasselbe geträumt habe. Das fand ich schon sehr merkwürdig, denn ich bin ein pragmatisch denkender Mensch und habe nichts mit Esoterik am Hut.

Aber plötzlich war mir klar, dass ich das Projekt meines Vaters weiterführen muss. Zwei Tage später kündigte ich meinen Job beim Radio.

Ihr Vater war während der 80er-Jahre einer der ersten HIV-/Aids-Experten der Schweiz. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Ich war damals noch ein Teenager, und zu dieser Zeit waren vor allem Homosexuelle, Prostituierte und Drogenabhängige betroffen. Mein Vater brach ein Tabu, indem er medizinisch begründet nach undogmatischen Lösungen suchte, über die Krankheit aufklärte und öffentlich über Sex und Kondome sprach. Dabei traf er auf grossen moralischen und politischen Widerstand. Das fand ich cool, denn ich realisierte, wie mutig er war und dass er sich nicht an Konventionen hielt. Und ja, das hatte natürlich auch etwas Peinliches. Wer möchte schon mit vierzehn oder fünfzehn, dass der eigene Vater im Fernsehen über Sex spricht?

Gleichzeitig haben meine beiden Geschwister und ich schon sehr deutlich gespürt, welche Leistung mein Vater im Dienste jener Menschen erbringt, die am Rande unserer Gesellschaft stehen. Dafür habe ich ihn schon damals sehr bewundert.

Die Newlands Clinic während des Lockdowns: Im Moment können nur Notfälle behandelt werden. 
Die Newlands Clinic während des Lockdowns: Im Moment können nur Notfälle behandelt werden. 
Bild: Andrew Philipp

Trotzdem sind Sie nicht Ärztin geworden. Warum nicht?

In Physik und Chemie hätte ich wohl komplett versagt, zudem wäre ich als Medizinerin wohl immer wieder direkt mit meinem Vater verglichen worden. Das wollte ich nicht.

Und doch hat Sie die Arbeit Ihres Vaters geprägt.

Ganz bestimmt. Während meines Studiums arbeitete ich als Pflegehelferin am Unispital Zürich. Zu dieser Zeit begleitete ich auch viele schwerstkranke HIV-Patienten. Weil es noch keine Medikamente gab, starben sie, ohne dass man medizinisch viel für sie tun konnte.

Keine leichte Erfahrung für eine junge Frau.

Das war eine wichtige Erfahrung für mich, aber … ja, es hatte mich auch sehr belastet. Nicht zuletzt, weil die Menschen, die vor mir lagen, in meinem Alter waren und manche von ihnen von ihren Familien verstossen wurden. Während der Nachtwachen hatte ich viel Zeit, mit den Patienten zu reden. Da wurde mir klar, dass vieles, was einem wichtig erscheint, am Ende des Lebens egal ist. Dann geht es um das, was wirklich zählt: um Familie, Freunde, um Zuneigung und Respekt.

Was ist Ihnen aus dieser Zeit in besonderer Erinnerung geblieben?

Noch oft denke ich an einen jungen homosexuellen Mann. Als er im Sterben lag, waren auch seine Eltern anwesend. Er musste umgebettet werden, und allein schaffte ich das nicht, also bat ich seinen Vater, mir dabei zu helfen. Doch das konnte er nicht, weil er ihn nicht anfassen wollte. Nicht nur, weil sein Sohn krank war, sondern weil Homosexualität nicht in sein bürgerliches Weltbild passte. Dass es Eltern gibt, die ihr sterbendes Kind nicht berühren können … das hat mir sehr wehgetan und mich in meinen Grundfesten erschüttert.

Was wünschen Sie sich für das Jahr 2021?

Ich wünsche mir sehr, dass es für die Menschen in Simbabwe bald wieder bergauf geht. Das Team der Newlands Clinic hat im vergangenen, schwierigen Jahr Unglaubliches geleistet, und ich hoffe, dass wir es auch weiterhin mit Kraft und Selbstvertrauen durch diese schwere Zeit schaffen.


Zurück zur Startseite