Autismus «Lieber Dominic, ich bin glücklich, dass du unser Leben bereicherst»

Erika Müller/bb

4.4.2018

«Du hast unseren Alltag all die Jahre ziemlich lebhaft gestaltet. Du bist zigmal abgehauen, hast dich im Restaurant zu wildfremden Menschen hingesetzt, weil sie deine heissgeliebten Pommes auf dem Teller hatten»: Mutter Erika Müller schreibt ihrem autistischen Sohn Dominic einen Brief.
«Du hast unseren Alltag all die Jahre ziemlich lebhaft gestaltet. Du bist zigmal abgehauen, hast dich im Restaurant zu wildfremden Menschen hingesetzt, weil sie deine heissgeliebten Pommes auf dem Teller hatten»: Mutter Erika Müller schreibt ihrem autistischen Sohn Dominic einen Brief.
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Nach «Buntes lohnendes Leben» hat Autist Dominic Müller (23) dieser Tage sein zweites Buch mit dem Titel «Ich bin so, wie ich bin» herausgebracht. «Bluewin» veröffentlicht den ergreifenden Brief seiner Mutter Erika, der darin abgedruckt ist.

Dominic Müller, geboren 1994, hat Autismus dritten Grades, ein starker Autismus, der ihm – wie er sagt – «alle Fettnäpfchen der Welt beschert, die die Umwelt parat hat, um rein zu treten». 

Müller hält seine Umgebung auf Trab. Als Sechsjähriger hackte er einen Hotel-Gästecomputer und machte möglich, dass der Internetzugang ab sofort gratis funktionierte. Heute geht der 23-Jährige manchmal auf Wanderschaft, kauft ein ohne an der Kasse zu bezahlen und macht sich praktischerweise zu Fuss auf dem Pannenstreifen der Autobahn auf den Heimweg.

Müller lebt in seiner eigenen Welt – überreizt von all den Einflüssen von aussen – und doch nimmt er jede Kleinigkeit um ihn herum wahr. Sprechen kann er kaum. Das Schreiben hingegen ermöglicht ihm den Zugang zur sogenannt «normalen» Welt. Seine Texte sind voller Weisheiten und Empathie für seine Mitmenschen: «Denken Sie ab und zu mit dem Bauch. Der weiss es nämlich oftmals besser.» 

Im neuen Buch von Dominic Müller ist auch ein Brief von seiner Mutter Erika zu finden:

Lieber Dominic

du hast dir gewünscht, dass ich auch mitschreibe an deinem Buch. Ich mache das sehr gerne. Dies gibt mir Gelegenheit, all die Jahre mit dir nochmals in Erinnerung zu holen. Dein Autismus veränderte vieles in unserer Familie. Nichts war mehr wie vorher. Glück, Fröhlichkeit, Traurigkeit, Stress, Überforderung und noch viel mehr wechselten sich ab wie das Wetter. Immer wieder waren wir auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, wie wir dir eventuell noch helfen könnten.

Wir suchten dabei auch nach alternativen Methoden. Alle in der Familie packten die Chance, dass du auch uns verändert und in unserer Entwicklung weitergebracht hat. Damals, im Urlaub auf Zypern, du warst etwa drei Jahre alt, hat mich eine Frau angesprochen, ob du Autist wärst. Auf mein Ja sagte sie mir, dass du ein Geschenk bist. Ich würde das zu gegebener Zeit dann schon merken. Meine Gedanken darüber waren: «Ja, und Weihnachten ist das ganze Jahr!». Viel konnte ich damals mit dieser Bemerkung nicht anfangen.

Besser wurde es, nachdem ich mich mit dir, anhand der Gestützten Kommunikation, unterhalten konnte. Es war dir wichtig, dass wir wussten, dass du keine geistige Beeinträchtigung hast, und in eine normale Schule gehen möchtest. Wenn wir dich in vielen Situationen nicht verstanden, konnte ich jetzt wenigstens versuchen, mit dir zu schreiben, auch wenn es nicht immer funktionierte. Ich weiss noch, wie du dich an der Ecke, an einer auf deiner Kopfhöhe offen stehenden Wandschranktür, die Stirne blau geschlagen hast. Dein Autismus zwang dich dazu, dass diese Tür immer offen sein musste.

Weinend hast du mir geschrieben, dass wir kinderunfreundliche Möbel hätten. Und dasselbe bei meiner Freundin zu Hause, als du über die Glasplatte des Salontisches gefallen bist, und dieser entzweibrach. Du warst nicht verletzt, aber meine Freundin war so geschockt über den Gedanken, was dir alles hätte passieren können, dass sie dich ziemlich ausgeschimpft hast. Du hast ihr später einen Brief geschrieben und dich entschuldigt mit den Worten, sie hätte kinderunfreundliche Möbel und du würdest ihr empfehlen, einen Holztisch zu kaufen. Deinen Rat hat sie ernst genommen und einen anderen Tisch angeschafft.

«Das Skifahren hat dir dein Papi mit viel Geduld beigebracht. Zuerst nahm er dich zwischen die Beine, später band er dich an ein Seil.»

Du mochtest deine jüngere Schwester nicht so leiden, solange sie klein war. Sie hätte dir eine zu hohe und piepsige Stimme, hast du geschrieben. Du würdest sie dann lieben, wenn sie älter ist. Oftmals hast du sie einfach durch die Gegend geschubst. Wir mussten immer speziell auf sie achtgeben. Als sie ein kleines Baby war, wolltest du dich manchmal zu ihr in den Stubenwagen legen. Wir waren immer rechtzeitig zur Stelle und konnten dies zum Glück verhindern. Du warst ja schon ziemlich gross und es wäre etwas eng geworden für euch beide in dem Stubenwagen. Du warst einfach eifersüchtig auf dieses kleine Persönchen, was man ja auch unter normales Verhalten hätte einordnen können. Sofort wurde aber meistens nach einer Erklärung für dein Verhalten gesucht. Es durfte ja bei dir auch mal etwas unter «normalem Verhalten» abgebucht werden, wie bei gesunden Kindern. Trotz, Eifersucht oder Gängeleien bedeuten ja bei allen Kindern natürliche Verhaltensweisen.

Du hast sie mir mal mit deinen Worten beschrieben, die ich nie vergessen werde. Deine kleine Schwester lernte mit zwölf Monaten laufen, sprach jedoch noch nicht viel. Kleine Kinder bringen einen auch öfters zum Lachen. Du hast sie so beschrieben: Hurtiger Schritt, niedrige Beredsamkeit, ulkige Dame. Später hast du deine kleine Schwester dann doch noch lieben gelernt.

Mutter Müller über ihren Sohn Dominic: «Es drehte sich ziemlich viel um dich, und das tut es immer noch. Aber wir lieben dich von Herzen und haben diese Aufgabe schon ziemlich gut gemeistert. Finde ich, oder?»
Mutter Müller über ihren Sohn Dominic: «Es drehte sich ziemlich viel um dich, und das tut es immer noch. Aber wir lieben dich von Herzen und haben diese Aufgabe schon ziemlich gut gemeistert. Finde ich, oder?»
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Das Skifahren hat dir dein Papi mit viel Geduld beigebracht. Zuerst nahm er dich zwischen die Beine, später band er dich an ein Seil. Mit der Zeit fuhrst du dann im Stemmbogen die einfacheren Pisten runter. Mütze und Handschuhe liessest du dir nicht überziehen, trotz aller Kälte. Stöcke brauchst du bis heute keine, die würdest du nur am Boden schleifen lassen. Aber Handschuhe und Helm, das geht jetzt gut. Ich denke, dass du deinen Körper besser wahrnimmst und dadurch auch empfindlicher geworden bist. Aber der Ablauf eines Skitages hat sich bis heute nicht geändert. Zwischen fünf- und achtmal rauf und runter, alles ohne Pause, dann ab ins Restaurant, wenn die Möglichkeit besteht, noch die Talabfahrt und dann nach Hause. Fertig. Ein halber Tag reicht da völlig aus. Ist doch für uns auch schön zu wissen, wie der grobe Ablauf so vor sich geht. Für unerwartete Einlagen sorgst du dann zwischendurch schon.

Als du älter wurdest, wurden dir Ferien zum Gräuel. Das ist bis heute so geblieben. Du bist nicht in gewohnter Umgebung, hast nicht deinen Computer, dein Zimmer, dein Bett. Ferien sind wirklich nicht dein Ding. Ich mag mich noch erinnern an die Ferien in Italien. Die Autofahrt war nie ein Problem. Du wärst tagelang gefahren. Wir mussten dich sogar für den Toilettengang zwingen auszusteigen. In Italien angekommen, war ich gerade fertig mit auspacken. Du bist aufgestanden, hast den Koffer, den ich gerade versorgt hatte, hervorgeholt, deine Plüschtiere und den Kassettenrecorder reingepackt, den Kofferdeckel geschlossen mit den Worten «Gö mer hei», und bist losmarschiert. Diese zwei Wochen in Italien haben wir dennoch überstanden. Wir machten von da weg meistens ohne dich Ferien. Zwei Wochen im Heim zu wohnen ist für dich auch nicht lustig, aber besser wie Ferien auswärts. Ferien zu Hause liebst du. Aber diese sollten auch nicht zu lange dauern. Es geht dir einfach nichts über einen strukturierten Tagesablauf. Stimmt irgendwie, oder?

«Heute entwendest du fremden Fussgängern blitzschnell ihr Handy, wenn sie schreibend dahergelaufen kommen.»

Du hast unseren Alltag all die Jahre ziemlich lebhaft gestaltet. Du bist zigmal abgehauen, in fremde Wohnungen rein zur Toilette, in der Badeanstalt über fremde Badetücher gelaufen, hast dich schon damals im Kiosk der Badi selbst bedient, hast dich im Restaurant zu wildfremden Menschen hingesetzt, weil sie deine heissgeliebten Pommes auf dem Teller hatten, und hast gleich mitgegessen. Und das nicht nur einmal. Heute entwendest du fremden Fussgängern blitzschnell ihr Handy, wenn sie schreibend dahergelaufen kommen. Ich habe mittlerweile so viel Übung, mich zu entschuldigen in diesen Situationen, dass ich mir manchmal ein Lachen verkneifen muss über die diversen Gesichtsausdrücke der Betroffenen. Ich könnte mittlerweile viele Drehbücher zur „Versteckten Kamera“ schreiben. Geballte Ladungen an Emotionen in den Gesichtern der Menschen faszinieren dich. Du kannst sie dadurch besser einordnen und verstehen.

Fremde Wohnungen nimmst du sofort unter die Lupe, indem du sämtliche Zimmertüren öffnest und schnell reinschaust. Vielleicht willst du ja nur wissen, wo die Toilette ist. Oder den Computer ausfindig machen oder ein Handy entdecken …

Es drehte sich ziemlich viel um dich, und das tut es immer noch. Aber wir lieben dich von Herzen und haben diese Aufgabe schon ziemlich gut gemeistert. Finde ich, oder? (Das könnten deine Worte sein.)

Unfälle und Krankheiten hast du auch schon einige hinter dir. Einmal bist du vom Pferd gefallen und hast dir den Arm und beim Skifahren das Bein gebrochen, wobei du noch einen Abend mit gebrochenem Wadenknochen herumspaziert bist. Wir merkten erst am nächsten Morgen, dass etwas nicht stimmt, weil du nicht mehr auf deinem Bein stehen wolltest. Damals schrieben wir noch nicht miteinander. Mit Krücken laufen ging gar nicht, und so bist du sechs Wochen lang am Boden rumgekrochen und hast dein gegipstes Bein hinter dir hergezogen.

Das schlimmste Ereignis für uns war, als du an einem Silvesterabend bei Freunden von einem Spielzeugstaubsauger die Styroporkügeli geschluckt hast und das von niemandem bemerkt wurde. Du warst eh schon erkältet und hast nach Mitternacht angefangen zu husten bis zum Erbrechen. Das zog sich Stunden dahin, bis du angefangen hast, diese Kügeli rauszuhusten. Wir landeten schlussendlich im Kinderspital Bern, wo man uns Eltern die Entscheidung überliess, ob man jetzt eine Lungenspiegelung machen soll oder besser nicht. Der Anästhesist und der Kinderarzt waren sich uneinig wegen der zusätzlichen Erkältung, an der du littest, und des zusätzlichen Risikos dadurch die Narkose.

Wir entschieden uns, es doch zu machen, weil auch die Gefahr bestand, dass sich eine Lungenentzündung hätte entwickeln können, wenn nicht alle Kügeli entfernt sind. Wir begleiteten dich bis vor den Operationssaal, wo man uns draussen stehenliess. Die Wände waren sehr dünn, wir konnten alles mithören. Auch als sie versuchten, dich wieder aus der Narkose zu holen. Sie riefen immer und immer wieder deinen Namen. Dein Papi tigerte wie ein wildes, eingesperrtes Tier den Gang rauf und runter mit den Worten, dass er jetzt dann reingehen würde um zu schauen, was da los sei. Eine Krankenschwester lief an uns vorbei und vertröstete uns mit einem «Das kommt schon gut!».

Unsere Angst war gross, die falsche Entscheidung getroffen zu haben und dich gehen lassen zu müssen. Doch irgendwann warst du wieder da. Du lagst völlig matt, mit Sauerstoff versorgt in deinem Bettchen, angeschlossen an die Herzüberwachungsmaschine. Dein Zwerchfell bewegte sich so heftig beim Atmen, man hätte meinen können, du seist einen Marathon gelaufen. Die unregelmässigen Herztöne machten uns Angst, die Krankenschwester stellte dann den Überwachungston ab. Man gab mir nach einem Tag Aufenthalt die freie Wahl, nach Hause zu gehen. Was ich auch tat. In den folgenden drei Tagen hattest du immer wieder 40 Grad Fieber, trotz Verabreichung starker Fieberzäpfchen. Nach diesen drei Tagen beschloss ich, mit dir in die Bioresonanz zu gehen. Ich frage mich heute noch, warum ich das nicht eher gemacht habe. Wir waren am Nachmittag dort und in der darauffolgenden Nacht warst du plötzlich putzmunter und das Fieber war sehr stark gesunken. Von dort weg war ich restlos überzeugt, dass alternative Behandlungsmethoden sehr unterstützend sein können.

«Auf YouTube holst du dir alles, was dich interessiert, auch in fremden Sprachen. Du bringst dir das auch selber bei.»

So vergingen die Jahre mit mehr oder weniger grosssen Turbulenzen. Du warst der erste im Kanton Bern, der in Begleitung einer Heilpädagogin die öffentliche Schule besuchen durfte. Es war dein ausdrücklicher Wunsch, da du ja nicht geistig behindert bist. Das war eine riesengrosse Aufgabe für uns Eltern, allein schon der Umstand, eine Schule und Lehrerinnen für eine Integration in die Regelschule zu begeistern, erwies sich als nicht einfach. Es war immer wieder sehr belastend für dich, nie zu wissen, ob es im neuen Schuljahr weitergehen würde. Du hast sogar ein zehntes Schuljahr machen dürfen. In dieser Zeit haben wir gemerkt, wie gut du schreiben kannst und wie hintergründig und berührend deine Texte sein können. Während der obligatorischen Schulzeit wussten wir, wie dein Weg verläuft.

Nach der Schulzeit wurde es schwieriger. Du warst in einer Gärtnerei in einem Praktikum, verbunden mit ein paar Lektionen Schule. Dann hast du verschiedene Werkstätten besucht, die dir keinen Platz anbieten konnten, bis es schlussendlich in Meiringen geklappt hat. Eine Anlehre kam für dich nicht infrage, da du zu viel Betreuung brauchst zum Arbeiten. Am meisten interessiert dich die virtuelle Welt. Wir haben dich schon als kleines Kind kaum mehr von farbigen, blinkenden Durchlaufreklamen wegbringen können. Computer, Handy, IPad – das alles fasziniert dich so sehr, dass du, um in diese Welt abtauchen zu können, sogar ungestützt schreibst. Weshalb das für deine persönlichen Gedanken nicht funktioniert, habe ich noch nicht herausgefunden. Du hast auch ein für dich eigens zugeschnittenes Zehnfingersystem entwickelt. Deine Finger huschen in rasantem Tempo über die Tastatur. Auf YouTube holst du dir alles, was dich interessiert, auch in fremden Sprachen. Du bringst dir das auch selber bei. Als kleiner Junge hast du sogar den Internetcorner vom Hotel geknackt. Wie du das gemacht hast, wissen wir bis heute nicht. Auch die zuständige Firma konnte das fast nicht glauben. Das wäre unmöglich. Und dann durch so ein kleines Kind … Wer weiss, was noch alles in dir schlummert. Wir lassen uns gerne überraschen.

Wir haben auch viele alternative Therapien und Behandlungen in Anspruch genommen. Dank dir, Dominic, habe ich sie auch kennen gelernt und ausprobiert. Teils wurde ich durch Erzählen über dich darauf aufmerksam gemacht oder ich habe darüber gelesen. Viele Jahre machten wir Kinesiologie und konnten damit sicher manchen Rucksack leeren. Es half auch uns auch als Familie über die Runden und brachte uns ganzheitlich weiter. So lernte ich immer wieder neue Therapien und Menschen kennen, die mir weitergeholfen haben. Ich habe auch angefangen mit dem Bauch zu spüren, ob das stimmig ist, wenn was Neues kommt.

Danke, Dominic! Ohne dich hätten wir nicht so eine intensive und freudige Entwicklung gemacht. Da bin ich überzeugt. Ich bin heute glücklich, dass du da bist, unser Leben bereicherst, und du so bist, wie du bist. Wir lieben dich von ganzem Herzen.

In Liebe, deine Mami

Buchhinweis: Dominic Müller, «Ich bin so wie ich bin», Cameo, ISBN 978-3-906287-37-9, 22.90 Fr.

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