Bötschi fragt Christian Berkel: «In jungen Jahren schämte ich mich, Deutscher zu sein»

Von Bruno Bötschi, Berlin

27.6.2019

Christian Berkel («Der Kriminalist») über die grösste Herausforderung als Schauspieler: «Eigentlich ist das immer die nächste Rolle. Das ist kein Bonmot, sondern wirklich wahr. Eine neue Rolle fühlt sich am Anfang immer wie ein schwieriger Berggipfel an, den man zum allerersten Mal erklimmen muss.»
Christian Berkel («Der Kriminalist») über die grösste Herausforderung als Schauspieler: «Eigentlich ist das immer die nächste Rolle. Das ist kein Bonmot, sondern wirklich wahr. Eine neue Rolle fühlt sich am Anfang immer wie ein schwieriger Berggipfel an, den man zum allerersten Mal erklimmen muss.»
Bild: Getty Images

Er ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Christian Berkel («Der Kriminalist») spricht über Fremdenhass, erzählt von der grössten Herausforderung auf dem Filmset und sagt, warum er ein Buch über seine Familie schrieb.

In einem Restaurant in Berlin-Mitte. Es ist später Nachmittag, die Temperatur bei hitzigen 32 Grad. Christian Berkel sass den ganzen Tag im Studio. Aufnahmen für ein neues Hörbuch. Von Müdigkeit jedoch keine Spur, aber er hat Hunger und Durst und bestellt einen Salat und Mineralwasser.

Berkel, 61, erfolgsverwöhnter Schauspieler, hat das Buch «Der Apfelbaum» über das Leben seiner deutsch-jüdischen Familie geschrieben und einen Bestseller gelandet. Und wenig später hat er die Weichen auf auf seinem Schauspieler-Weg umgelegt: Ende 2020 ist Schluss mit seiner Paraderolle als «Der Kriminalist». Reichlich Stoff also für ein Interview.

Aber wir starten, wie immer, mit ein paar laschen, ein paar netten Fragen.

Herr Berkel, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in den nächsten 45 Minuten möglichst viele Fragen, und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach «weiter».

Ich werde versuchen, mich kurzzuhalten.

Paris oder Berlin?

Das ist eine gemeine Frage. Paris – obwohl ich Berlin sehr liebe.

Haben Sie Paris lieber, weil sie dort Ihre Jugend verbracht haben?

Ich lebte im Alter von 14 bis 16 in Paris. Aber ich habe bei der vorherigen Antwort geschwindelt, weil ich in Wahrheit doch mehr mit Berlin verbunden bin. Die korrekte Antwort wäre: Berlin ist meine Heimat, Paris die Sehnsucht.

Schauspielerei oder Schriftstellerei – welche Tätigkeit verfolgt Sie häufiger in Ihren Träumen?

In meinen Träumen verfolgen mich beide Tätigkeiten nicht wahnsinnig oft. In der Realität möchte ich versuchen, in nächster Zeit beiden Leidenschaften nachzugehen.

Morgenmuffel?

Ja.

Kalte Dusche oder Koffein?

Beides.

Singen im Bad?

Selten. Ich bin leider kein begnadeter Sänger. Es ein Trauma zu nennen, das wäre vielleicht übertrieben, aber schon als Kind hatte ich Mühe, die Töne zu treffen – damals wurde ein paar Mal zu laut gelacht, deshalb habe ich das Singen irgendwann gelassen.

Wirklich wahr, dass in Ihrem Badezimmer ein grosses Bett steht?

Ja.

Dann haben Sie ein sehr grosses Badezimmer?

Das haben wir, das Badezimmer ist mein zweites Arbeitszimmer.

Das müssen Sie erklären.

Angefangen hat es vor ein paar Jahren, ich hatte mir beim Skifahren in der Schweiz das Bein gebrochen. Eine Woche nach dem Unfall fingen die Dreharbeiten für einen neuen Film an. Ich war jahrzehntelang daran gewöhnt, im Gehen Texte zu lernen. Mit den Krücken war das aber zu anstrengend, und so musste ich mir wohl oder übel beibringen, im Liegen oder im Sitzen Text zu lernen. Das kostete mich wahnsinnig viel Kraft, und ich legte mich damals auch ab und zu im Bad hin. Heute lerne ich Texte fast nur noch liegend – und meistens im Badezimmer. Und wissen Sie was, auch meinen Roman «Der Apfelbaum» schrieb ich anfänglich im Liegen. Das habe ich mir jedoch ganz schnell wieder abgewöhnt, weil es doch zu mühsam wurde – den grössten Teil des Buches schrieb ich sitzend im Arbeitszimmer.

Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten?

Es gibt bei uns zu Hause sicher überflüssige Gegenstände, obwohl wir ziemlich minimalistisch eingerichtet sind. Mich machen vollgestellte Räume nervös. Ich muss einen Moment nachdenken, welcher Gegenstand überflüssig sein könnte … na ja, ich habe zwei jüdische Leuchter von meiner Grossmutter geerbt, die wir nie benutzen. Insofern könnte man sie als überflüssig bezeichnen, aber ich würde sie trotzdem nie weggeben, weil sie mir viel bedeuten.

Christian Berkel über seinen Roman «Der Apfelbaum»: «Ein Schauspieler muss, wie ein Schriftsteller auch, die Fähigkeiten mitbringen, sich emotional in Figuren einfühlen zu können. Eine Fähigkeit, die mir beim Schreiben zugutegekommen ist.»
Christian Berkel über seinen Roman «Der Apfelbaum»: «Ein Schauspieler muss, wie ein Schriftsteller auch, die Fähigkeiten mitbringen, sich emotional in Figuren einfühlen zu können. Eine Fähigkeit, die mir beim Schreiben zugutegekommen ist.»
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Welche Hausarbeit machen Sie gern?

Ehrliche Antwort: keine (lacht). Kochen gehört für mich nicht zu den Hausarbeiten. Und wenn doch, dann wäre das eine Arbeit, die ich gern mache. Ich habe aber kein Problem damit, während des Kochens die Küche aufzuräumen. Ich mag keine Unordnung. Zudem hätte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich meiner Frau ein Trümmerfeld hinterlassen würde.

Eine ehrliche Haut, dieser Berkel. Und trotz des langen Arbeitstages wunderbar gut gelaunt.

Wie viel Prozent der Aufgaben im Haushalt übernehmen Sie?

Aus der vorherigen Antwort können Sie schliessen, dass es nicht viele sind.

Haben Ihre Frau und Sie bezüglich Aufgabenteilung im Haushalt eine Abmachung?

Wir haben keine Abmachung, aber zum Glück eine Haushaltshilfe. Es bleibt also nicht alles an meiner Frau hängen, denn sie mag Haushaltsarbeiten fast genauso wenig wie ich.

Die härteste Arbeit, die Sie je mit Ihren Händen getan haben?

Ich glaube, ich habe noch nie wirklich hart mit meinen Händen gearbeitet.

Nennen Sie bitte drei Gründe, warum das Leben wunderschön ist?

Weil das Leben unvorhersehbar ist, und weil sich auch etwas Trauriges in etwas Schönes verwandeln kann. Das Kennenlernen des Gegensatzes – das gehört auch zum Tollen am Leben.

Aber jetzt ist genug nett geplaudert – wir erhöhen das Tempo.

Sie wirken in der Öffentlichkeit oft ernst. Worüber können Sie herzhaft lachen?

Das ist eine Wahrnehmung, die von meiner Familie und meinen Freunden wahrscheinlich nicht bestätigt würde. Ich bin leicht zum Lachen zu bringen. Am meisten Lachen kann ich, wie wahrscheinlich viele andere auch, über unfreiwillige Komik.

Bei was heben Sie den Finger: Eitelkeit oder Narzissmus?

Ich halte grundsätzlich nicht allzu viel vom Zeigefinger.

Schauen Sie gern die Wolken an, wenn Sie in einem Flugzeug sitzen?

Ja.

Warum drängeln die Menschen beim Betreten eines Flugzeuges?

Ich glaube, weil es den Menschen – wider jede Vernunft – schwerfällt, in einer Schlange zu stehen. Tatsache ist ja, dass das Flugzeug sowieso erst abfliegt, wenn alle Passagiere Platz genommen haben. Ich gebe zu, ich stehe auch nicht gern in der Schlange, Drängeln finde ich aber noch unangenehmer.

Mit welcher berühmten Persönlichkeit wurden Sie schon auf der Toilette verwechselt?

(Lacht) Mit keiner.

Wird man als bekanntes Gesicht in Berlin in Ruhe gelassen?

Ja.

Die riskanteste, mutigste Entscheidung in Ihrem Leben?

Es kommt vor, dass Menschen Dinge, die ich gemacht habe, als mutig beschreiben, aber ich empfand das nicht so. Begrenzungen, die gewissermassen in mir selbst entstehen, haben mich schon immer geärgert. Ich bin jemand, der seinen Ängsten ins Auge sieht. Angst hat oft mit Widerstand zu tun. Doch nach meiner Erfahrung liegt dort, wo sich Widerstand bildet, meist viel Interessantes über die eigene Person verborgen.

Sie sind 1,73 Meter gross. Wäre Ihr Leben mit 1,85 Metern anders verlaufen?

Mit Sicherheit wäre es anders verlaufen, aber ich bezweifle, ob das wünschenswert gewesen wäre, ich habe mir das auch nie gewünscht. Ich bin einfach als Kind schnell gewachsen. Mit 13 war ich bereits so gross, wie ich heute bin. Und als Dreizehnjähriger 1,73 Meter zu sein, ist ja nicht besonders klein. Während meiner Kindheit gehörte ich immer zu den Grösseren. Insofern hatte ich mit meiner Grösse nie ein Problem. Mein Vater war übrigens nur 1,60 Meter, trotzdem strahlte er immer ein grosses Selbstbewusstsein aus.

Schreiben Sie Tagebuch?

Ich habe es drei, vier Jahre lang getan – während einer krisenhaften Zeit. Ich dachte damals: Okay, jetzt muss ich einfach mal gucken, was mit mir los ist und mich nicht nur von meinen Empfindungen treiben lassen. Mit dem Tagebuch wollte ich mir selbst Rechenschaft ablegen. Ich habe fast jeden Tag etwas hineingeschrieben, die älteren Einträge aber nur äusserst selten nochmals gelesen. Die Tagebücher habe ich aber nach wie vor daheim gelagert.

Wann wurde Ihnen die besondere Geschichte Ihrer Familie das erste Mal so richtig bewusst?

Ein konkretes Datum kann ich nicht nennen. Aber ich denke, es war relativ früh, auch wenn ich die ganze Tragweite der Geschichte vielleicht nicht sofort habe erfassen können. Stark bewusst geworden ist mir die Geschichte unserer Familie, als ich als Jugendlicher in Frankreich lebte. Damals, also anfangs der 1970er Jahre, waren Vorurteile und Widerstand gegen die Deutschen noch sehr präsent. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich immer wieder in Etappen mit unserer Familiengeschichte beschäftigt.

Wann fingen Sie konkret an, in Archiven und Dokumentationen nach Spuren Ihrer Familie zu suchen?

Das war 2010. Ich wollte die Zeit nutzen, so lange meine Mutter noch lebte, mein Vater war schon Jahre vorher gestorben. Zuerst habe ich nur für mich selbst recherchiert, Monate später fing ich an, mit meiner Mutter zu reden – ich spürte, dass ihr Vergessen anfing, ihre Demenz.

Sie zählen zu den bekanntesten Schauspielern im deutschsprachigen Europa. «Rossini», «Der Untergang», «Der Kriminalist» oder «Inglorious Basterds» sind nur eine kleine Auswahl Ihres filmischen Schaffens. Für Schauspieler ist das «Erinnern» ein wichtiges Werkzeug. Wie kam Ihnen dieses Talent zugute beim Schreiben Ihres Romans «Der Apfelbaum»?

Ein Schauspieler muss, wie ein Schriftsteller auch, die Fähigkeiten mitbringen, sich emotional in Figuren einfühlen zu können. Eine Fähigkeit, die mir beim Schreiben zugutegekommen ist. Beide Berufe haben viel mit Text zu tun, und eine starke Auseinandersetzung mit der Sprache ist ihnen ebenfalls gemein.

Christian Berkel über sein nächstes Buch: «Für den zweiten Teil der Familiengeschichte beschäftige ich mich gerade intensiv mit der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Nazis sassen damals noch überall, sie haben sich ja nach dem Krieg nicht einfach in Luft aufgelöst.»
Christian Berkel über sein nächstes Buch: «Für den zweiten Teil der Familiengeschichte beschäftige ich mich gerade intensiv mit der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Nazis sassen damals noch überall, sie haben sich ja nach dem Krieg nicht einfach in Luft aufgelöst.»
Bild: Stefan Klüter

Was hat Sie schlussendlich dazu gebracht, die Geschichte Ihrer Familie zwischen zwei Buchdeckel zu packen?

(Überlegt lange) Ich fand die Geschichte spannend und erzählenswert, bemerkte jedoch bald, dass es viele Lücken gibt. Ich selbst wusste nichts von vielen Dingen, die meine Familie erlebt hat. Sprach ich mit anderen Menschen meiner Generation, stellte ich fest, dass es ihnen ähnlich ging, auch andere Familien kennen Tabus. Bis mir irgendwann klar wurde, dass dieses Nichterzählen eine ebenso grosse Rolle bei der Findung der eigenen Identität spielt. Vielleicht sogar eine noch grössere als der bekannte Teil einer Familiengeschichte, weil wir den unbekannten nicht kontrollieren können. Was mich zudem interessierte, war die Ungleichheit meiner Eltern. Oft denkt man, zur Liebe gehöre Einvernehmen, eine ähnliche Herkunft und ähnliche Erfahrungen. Dabei kann, gerade in der Liebe, das Gegensätzliche enorm attraktiv sein. Ich bin sogar überzeugt davon, dass viele Menschen in der Liebe den Gegensatz suchen.

Sie auch?

Ja – meine Frau und ich sind total unterschiedliche Persönlichkeiten.

Wirklich sympathisch, dieser Berkel. Und er scheint überhaupt kein Problem damit zu haben, wenn er über Privates ausgefragt wird.

Ist Schreiben für Sie wie das Gleiten in eine warme Badewanne, oder erleben Sie Blockaden und Verzweiflung?

Blockaden habe ich bisher Gott sei Dank nicht erlebt, Zweifel schon. Einmal habe ich 200 Seiten einfach weggeschmissen, weil ich merkte, dass die Geschichte so nicht funktionieren kann. So ein Moment kommt einer Verzweiflung relativ nah. Danach brauchte ich eine längere Pause, bis das Schreiben wieder richtig funktionierte. Vielleicht funktionierte es auch deshalb irgendwann wieder, weil ich im Hinterkopf immer wusste: Ich kann jederzeit aufhören mit dem Schreiben, aber ich will erst aufgeben, wenn ich ganz, ganz sicher bin, dass es wirklich nicht klappt.

Fürchteten Sie sich davor, im Buch zu viel von sich und Ihrer Familie preiszugeben?

Nein, davor hatte ich keine Angst. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Autor und dem literarischen Ich. Die Figuren sind nicht identisch. Selbst wenn ich jetzt gerade auf einem Blatt Papier notieren würde, wie wir beide heute Abend zusammensitzen, Salat essen und dieses Interview führen. Denn allein, weil ich die Geschichte zu Papier bringe, fange ich an, sie zu formen, ihr eine andere Gestalt zu geben.

In Ihrer Familiengeschichte spiegelt sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Haben Sie sich mal gefragt: Was heisst das?

Das habe ich, ja. Besonders treffend beschreibt der englische Historiker Eric Hobsbawm in seinem Buch «Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts» das vergangene Jahrhundert. Bei ihm beginnt das letzte Jahrhundert 1914 mit dem Ersten Weltkrieg und endet mit dem Mauerfall 1989. Eine kurze Zeitspanne, in der viele extreme und ungeheuerliche Dinge passiert sind – gerade in Deutschland. Für mein nächstes Buch, den zweiten Teil der Familiengeschichte, beschäftige ich mich gerade intensiv mit der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Nazis sassen damals noch überall, sie haben sich ja nach dem Krieg nicht einfach in Luft aufgelöst. Ja, die junge Bundesrepublik Deutschland wurde eigentlich von den Nazis zum Erfolg geführt, so wie das Willy Winkler in seinem Buch «Das braune Netz» beschreibt. Man könnte also in gewisser Weise sagen, dass die Nazis mit dem Wirtschaftswunder den Krieg doch noch gewonnen haben. Deutschland wurde innert kurzer Zeit wieder zu einer wirtschaftlichen Macht innerhalb von Europa – und ist es heute noch. Andere Völker beäugen das durchaus kritisch, auch deshalb wird immer wieder Kritik an uns Deutschen laut. Etwa wenn es um das Projekt Europa geht – und weshalb wir da unbedingt die Führung übernehmen wollen.

Wo soll das enden? Berkel antwortet viel zu lang, um in 45 Minuten alle Fragen unterzukriegen. Der Interviewer kommt langsam ins Schwitzen. – Aber unterbrechen? Warum auch, dafür sind die Antworten zu spannend.

Auf Ihrem Buch steht Roman drauf, aber es ist die Geschichte Ihrer Familie. Ich fragte mich während des Lesens ständig: Was ist authentisch, was tatsächlich geschehen, was erfunden?

Thomas Wolfe beschreibt das im Vorwort zu seinem Roman «Schau heimwärts, Engel!» auf wunderbare Weise: Er werde immer wieder gefragt, was wahr und was nicht wahr sei in seinen Büchern? Früher sei er deswegen oft verlegen geworden und habe nicht gewusst, was er auf diese Frage antworten solle, denn für ihn sei jede Literatur, die diesen Namen verdiene, autobiografisch. Für meinen Roman «Der Apfelbaum» kann ich sagen, die im Klappentext erwähnten Stationen und Jahreszahlen entsprechen der Wirklichkeit. Was jedoch an den einzelnen Orten geschehen ist, wie die Menschen sich gefunden haben oder nicht, ist hingegen fast alles erfunden, weil ich das schlicht und einfach nicht weiss. Denn darüber wurde ja nicht gesprochen in unserer Familie.

Die Geschichte von General Putin, die Ihnen Ihre Mutter ganz am Ende des Buches erzählt – ist sie wahr?

Verrate ich nicht.

In unserer Gesellschaft scheinen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gerade wieder salonfähig zu werden. Hat Sie das beim Schreiben Ihres Romans beschäftigt?

Beschäftigt schon – deshalb schrieb ich die Geschichte aber nicht auf. Als ich mit dem Schreiben begann, habe ich aus meiner subjektiven Sicht den Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland als nicht so stark empfunden wie heute. Unter der Decke brodelt es jedoch schon viel länger. Ich weiss von meinen jüdischen Freunden, dass es bereits damals immer wieder zu physischen Übergriffen gegen Juden gekommen ist.

Schämten Sie sich früher, Deutscher zu sein?

In jungen Jahren auf jeden Fall.

Seit wann akzeptieren Sie Ihr Vaterland?

Während meiner Jugendzeit in Frankreich wollte ich Franzose werden – bis ich irgendwann merkte, ich kann nicht einfach meine Identität wechseln. Um das zu können, muss ich mich zuerst mit meiner Heimat, mit Deutschland, auseinandersetzen – will ich den Wechsel danach auch noch, kann ich ihn noch immer vollziehen.

Wann hadern Sie heute mit Ihrem Heimatland?

Mit dem Land hadere ich eigentlich nicht. Während der Lesereise für meinen Roman «Der Apfelbaum» bin ich auch in viele kleine und kleinste Orte in Deutschland gereist und war beeindruckt von der Vielfalt des Lebens und der Landschaften. Ich glaube tatsächlich, dass das Liebens- und Hassenswerte am deutschen Volk seine ausgeprägte Irrationalität ist. Die Deutschen werden ja immer als korrekt und rational beschrieben. Ich erlebe die Menschen in unserem Land jedoch ganz anders. Ich glaube, die Deutschen sind mehr als andere in der Lage, ihre Emotionen plötzlich kippen zu lassen, auszuschalten oder gar ins Negative zu drehen. Das hat etwas Anziehendes, aber es kann auch sehr abstossend wirken.

Sie bekamen für Ihren Roman den Ritterschlag des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Er sagte: «Christian Berkel ist kein schreibender Schauspieler, er ist ein Schriftsteller.»

Der kluge Daniel Kehlmann hat natürlich die Gefahr sofort erkannt – es haben dann auch alle vermutet, wir seien befreundet, sind wir aber leider nicht. Ich bewundere ihn sehr, habe ihn bisher aber nur zweimal sehr kurz gesehen. Trotzdem bat ich ihn, mein Buch zu lesen – und zu meiner sehr grossen Überraschung hat er sogar geantwortet.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Die Liebe meiner Frau, die Liebe meiner Söhne und die Liebe zur Literatur.

Christian Berkel über seine Frau Andrea Sawatzki: «An meiner Frau schätze ich ihre Bereitschaft, Fehler zu machen. Ich bewundere, wie sie in Situationen reinspringt, ohne viel darüber nachzudenken, wie diese ausgehen.»
Christian Berkel über seine Frau Andrea Sawatzki: «An meiner Frau schätze ich ihre Bereitschaft, Fehler zu machen. Ich bewundere, wie sie in Situationen reinspringt, ohne viel darüber nachzudenken, wie diese ausgehen.»
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Gibt es einen grösseren Wert als Familie?

Nein.

Welches Familienbild tragen Sie immer bei sich?

Wir leben in der Zeit des Mobiltelefons, da trägt man sehr viele Bilder mit sich herum. Früher wäre die Antwort auf diese Frage wahrscheinlich interessanter gewesen, weil man meist nur ein oder zwei Familienbilder im Portemonnaie dabeihatte.

Welchen Sinn sehen Sie darin, Kinder auf die Welt zu bringen?

Einen ganz irrational animalischen Sinn – meine Überzeugung ist, dass man bloss nicht aus irgendwelchen vernünftigen Gründen Kinder machen oder nicht machen soll. Als junger Mensch fragte ich mich oft, ob es überhaupt verantwortbar sei, Kinder auf die Welt zu stellen. Heute weiss ich: Man hat dieses Bedürfnis oder nicht. Manche Menschen haben nur das sehr narzisstische Bedürfnis, sich fortzupflanzen. Manche Menschen haben das Bedürfnis, eine Familie zu gründen. Andere haben das Bedürfnis, mit diesem einen Menschen und keinem anderen eine Familie zu gründen.

Haben Ihre beiden Kinder Ihren Roman gelesen?

Nein. Ich habe Ihnen das Buch zwar gegeben, glaube aber, eine gewisse Scheu bei unseren Kindern zu erkennen – wahrscheinlich habe ich sie in ihrem Alter auch gehabt.

Von welcher Scheu reden Sie?

Als junger Mensch ist man vor allem mit sich selbst beschäftigt und dem Jetzt. Gleichzeitig möchte man sich langsam von seinen Eltern lösen. Ich wollte in dieser Phase auch kein Buch lesen, das sagt: Komm, bleib bei mir. Auch wenn das nicht der Sinn meines Buches ist.

Was halten Sie von diesem Text über Sie: «Der Glatzkopf mit den freundlichen Augen, dem kantigen Kinn und häufig mit Drei-Tage-Bärten bevorzugt Rollen mit wenig Dialog und Aktionen, die Spielraum für spannende Leerstellen und Rätsel seiner Charaktere lassen.»

Das ist völlig okay so.

Lesen Sie Kritiken?

Ich lese sie, habe sie immer gelesen. Am Anfang war das sehr schwierig, als ich etwa als junger Schauspieler das erste Mal eine schlechte Kritik über mich las, war ich am Boden zerstört. Ein befreundeter Schauspieler sagte erst kürzlich zu mir: «Wenn sich jemand die Mühe macht und sich kritisch mit meiner Arbeit auseinandersetzt, werde ich mir das immer ansehen wollen. Es ist ja auch immer eine Respektbezeugung, auch wenn der Autor negativ über mich schreibt.» Diese Aussage kann ich nur unterschreiben.

Haben Sie manchmal Rachegefühle?

Meinen Sie Kritikern gegenüber oder allgemein?

Allgemein.

Natürlich habe ich Rachegefühle – ich glaube, die hat jeder Mensch, aber manche unterdrücken sie vielleicht.

Werden die Mitmenschen einem mit zunehmendem Alter lästig?

Nein. Menschen machen das Leben erst schön. Ich würde diesen Satz gern noch bei meiner Antwort auf Ihre Frage «Was macht das Leben wunderschön?» dazustellen.

Ihr liebster Bibelspruch?

Am Anfang war das Wort.

Haben Sie schon gemeint, zu sterben, und was ist Ihnen dabei eingefallen?

In dieser Situation war ich noch nie. Ich habe das Sterben meines Vaters miterlebt. Und auf dem Filmset erlitt einmal ein Mitarbeiter einen Herzinfarkt. Ich habe versucht, ihn wiederzubeleben, aber er ist dann unter meinen Händen gestorben. Ich war also mehrmals mit dem Tod konfrontiert, begreife ihn aber bis heute nicht. Ich denke, wir Menschen sind nicht dafür geschaffen, das Phänomen «Tod» zu verstehen.

Welche Ihrer zahlreichen Rollen als Schauspieler war bisher die grösste Herausforderung?

Eigentlich ist das immer die nächste Rolle. Das ist kein Bonmot, sondern wirklich wahr. Eine neue Rolle fühlt sich am Anfang immer wie ein schwieriger Berggipfel an, den man zum allerersten Mal erklimmen muss. Aber natürlich gibt es Rollen, die ganz besonders kompliziert sind.

Welche?

Zum Beispiel der Gefangene Nummer 38 im Film «Das Experiment». Im Gegensatz zu allen anderen Gefängnisinsassen hatte ich so gut wie keinen Text. Im Drehbuch stand meistens: «Liegt auf der Pritsche» oder «starrt ins Leere». Ich sagte bereits im Vorfeld der Dreharbeiten zum Regisseur, dass ich das kaum die ganze Zeit durchhalten würde können.

Was antwortete er?

Er beruhigte mich, meinte, wir würden schon einen Weg finden. Ich weiss noch, dass ich während der ersten zehn Drehtage mehrmals vor lauter Angst fast in die Hose gemacht hätte. Diese Momente fühlten sich an, als würde sich mein ganzer Körper zusammenziehen.

Wie ging es weiter?

Irgendwann schaffte ich es, mich zu befreien, weil ich plötzlich spürte, dass es ein aktives und ein passives Schweigen gibt. Wenn man zum Schweigen verdammt ist, tut das weh. Aber man kann sich auch aktiv dafür entscheiden, nicht zu reden – und das tut unheimlich gut und gibt viel Energie.

Christian Berkel über seine Heimat: «Berlin ist eine Stadt, die immer im Werden ist, die nie ankommt. Dieses Nichtankommen ist etwas zu tiefst Lebendiges und typisch für diese Stadt.»
Christian Berkel über seine Heimat: «Berlin ist eine Stadt, die immer im Werden ist, die nie ankommt. Dieses Nichtankommen ist etwas zu tiefst Lebendiges und typisch für diese Stadt.»
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Wenn Sie eine Frau wären: Wären Sie gern mit sich selbst verheiratet?

(Lacht) Oh, was ist das für eine Frage? Ähm, also, ich bin überzeugt davon, dass sowieso immer die Frauen entscheiden, ob ein Paar ein Paar wird. Nur manchmal lässt die Frau den Mann im Glauben, er, der Mann, hätte den ersten Schritt getan.

Das war nicht die Antwort auf meine Frage.

Auf so eine Frage kann man ja fast nur kokett antworten – entweder sage ich kokett «ja» oder ich sage «nein», aber das wäre noch die schlimmere Koketterie.

In den Medien heisst es oft, Sie und Ihre Ehefrau Andrea Sawatzki strahlten eine grosse Innigkeit und Komplizenschaft aus. Wie erklären beziehungsweise wie bewahren Sie sich Ihr Liebesglück?

Die Frage wird uns immer wieder gestellt – und die Wahrheit ist, dass wir keine Antwort darauf haben. Jedenfalls keine, die in irgendeiner Weise etwas Besonderes zu bieten hätte. Das Wesentliche an unserer Partnerschaft ist das Interesse am anderen, sprich die Neugierde, die Aufmerksamkeit und die Zuwendung. Dazu kommt das mit den Jahren immer stärker und grösser werdende Gefühl des gegenseitigen Verstehens, selbst da, wo man sich nicht versteht. Da, wo es vielleicht sogar Missklang gibt – ja, dieser kommt selbstverständlich auch in unserer Beziehung vor.

War es bei Ihnen und Ihrer Frau Liebe auf den ersten Blick?

Auf den ersten Blick nicht – aber nach dem ersten Kennenlernen ging es sehr schnell, also nicht länger als eine Woche.

Sie sind mit Ihrer Frau seit über 20 Jahren zusammen – wer hat mehr von wem gelernt?

Wir haben gegenseitig gelernt. An meiner Frau schätze ich ihre Bereitschaft, Fehler zu machen. Ich bewundere, wie sie in Situationen reinspringt, ohne viel darüber nachzudenken, wie diese ausgehen. Ich bin da ganz anders, treffe Entscheidungen zwar auch häufig aus dem Bauch heraus, aber erst, nachdem ich vorher einiges in den Rucksack gepackt habe.

Geheiratet haben Sie 2011: Hat die Ehe Ihre Liebe verändert?

Vielleicht tönt das komisch, aber ich glaube, dass alle Strukturveränderungen etwas mit uns machen – auch die Ehe. Die Ehe ist ja vor allem auch eine Institution und ein Bekenntnis zur Gesellschaft.

Welcher Satz Ihrer Frau treibt Sie zur Weissglut?

(Lacht) Nein, wir kommen nicht zu spät.

Worüber streiten Sie?

Über Abflugtermine.

Sie sind nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Sprecher bekannt. Haben Sie Ihre Stimme schon einmal zu Verführungszwecken eingesetzt?

Das tun wir alle, aber wahrscheinlich nicht bewusst, und wenn doch, geht es meistens schief.

Welches Alltagsgeräusch geht Ihnen auf die Nerven?

Musikberieselung.

Welches Alltagsgeräusch mögen Sie?

Musik – aber das ist ja eigentlich kein Alltagsgeräusch. Ich liebe die Geräusche der Stadt, mag das morgendliche Zwitschern der Vögel. Ich liebe die Geräusche von vorbeifahrenden Zügen, ganz im Gegensatz zu jenen von startenden Flugzeugen – die hasse ich. Ich finde Zugfahren die wesentlich schönere Form des Reisens. Fliegen ist zur fürchterlichen, nein, zur fürchterlichsten Form des Reisens geworden. Im Süden liebe ich die Geräusche der Grillen und des Meeres.

Die derzeit beste Melodie am Radio?

Oh, da bin ich gar nicht up to date. Ich höre meistens im Auto Radio, da springe ich jeweils zwischen Jazz, Klassik, Rock und Pop hin und her. Früher, als ich die Kinder noch in die Schule fuhr, musste immer Hiphop und Rap laufen.

Der schönste Ort in Berlin ist …

(Überlegt langt) Die schönsten Orte in Berlin sind die Bruchstellen. An diesen Orten habe ich die Stadt, weil ich wahrscheinlich auch durch die Mauer geprägt bin, am meisten wahrgenommen. Ich bin als Jugendlicher immer zwischen Ost und West gependelt, weil mein Grossvater in Ost-Berlin lebte, später besuchte ich dort regelmässig Theateraufführungen. Die Stadt Berlin war nie vollständig, und obwohl die Mauer heute nicht mehr steht und die Teilung aufgehoben ist, sind die Bruchstellen nach wie vor sichtbar. Diese Verletzlichkeit, die es in anderen Städten nicht gibt, ist etwas, wofür ich Berlin besonders liebe.

In einem Satz: Wie werben Sie für Berlin?

Dafür würde ich einen Satz von Ernst Bloch nehmen. Ich weiss nicht, ob ich ihn genau zitieren kann, aber sinngemäss lautet er: «Berlin wird und wird und wird immer nur Berlin. Es beginnt mich langsam zu interessieren.» Berlin ist eine Stadt, die immer im Werden ist, die nie ankommt. Dieses Nichtankommen ist etwas zu tiefst Lebendiges und typisch für diese Stadt.

Wie warnen Sie vor Berlin?

Berlin kann sehr abweisend sein, sehr kalt. Die Berliner Winter sind unerträglich lang. Die Stadt kann sehr düster sein. Aber dafür hat man im Sommer oft das Gefühl, man sei im Süden – und das nicht nur, weil die Sonne scheint, sondern weil viel Lebensfreude spürbar ist.

Ein schöner Schlusssatz.

Es waren auch tolle Fragen.

Nach zwei Stunden verlässt Christian Berkel das Restaurant wieder. Er lächelt – der Journalist auch. Hey, das war spannend und hat Spass gemacht.

Bibliografie: Der Apfelbaum, Christian Berkel, Ullstein, 416 Seiten, ISBN 13 9783550081965, ab Fr. 14.30.

«Bluewin»-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten. Bötschi hat viel Erfahrung mit Interviews. Für die Zeitschrift «Schweizer Familie» betreute er jahrelang die Serie «Traumfänger». Über 200 Persönlichkeiten stellte er dafür die Frage: Als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich? Das Buch zur Serie «Traumfänger» ist im Applaus Verlag, Zürich, erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich.
«Bluewin»-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten. Bötschi hat viel Erfahrung mit Interviews. Für die Zeitschrift «Schweizer Familie» betreute er jahrelang die Serie «Traumfänger». Über 200 Persönlichkeiten stellte er dafür die Frage: Als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich? Das Buch zur Serie «Traumfänger» ist im Applaus Verlag, Zürich, erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich.
Bild: zVg
Karlheinz Weinberger – der Fotograf für das Ungewöhnliche
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