Schriftsteller Friedrich Glauser «Hauptsache ist, dass die Gedanken nicht stehenbleiben»

Herausgegeben von Christa Baumberger

3.4.2021

«Ich komm mir manchmal, und du musst entschuldigen, dass ich wieder von mir anfange, wie ein abgehetzter Hase vor, der sich endlich in einer Ackerfurche vor den Hunden gerettet hat»: Schriftsteller Friedrich Glauser in einem Brief an Mundart-Dichterin Martha Ringier. Das Bild wurde im Sommer 1938 in Nervi bei Genua, Italien aufgenommen.
«Ich komm mir manchmal, und du musst entschuldigen, dass ich wieder von mir anfange, wie ein abgehetzter Hase vor, der sich endlich in einer Ackerfurche vor den Hunden gerettet hat»: Schriftsteller Friedrich Glauser in einem Brief an Mundart-Dichterin Martha Ringier. Das Bild wurde im Sommer 1938 in Nervi bei Genua, Italien aufgenommen.
Bild: Keystone

Friedrich Glauser, er wäre heuer 125 Jahre alt geworden, gilt mit dem Wachtmeister Studer als einer der Erfinder des modernen Kriminalromans. Der Korrespondenz-Band «Jeder sucht sein Paradies …» ­zeigt die zutiefst widersprüchlichen Gesichter des Schweizer Schriftstellers.

Herausgegeben von Christa Baumberger

3.4.2021

«Hauptsache ist, dass die Gedanken nicht stehenbleiben, sondern auf einmal eingeschlagenem Weg weiterziehen, bald langsam und schleppend, bald freudig tanzend, einem Ziele zu, das unerreichbar bleibt, stets», schrieb Friedrich Glauser 1925 in einem Brief an seinen Psychiater Max Müller.

Glauser gehört zu den wichtigsten Schweizer Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Werk, das bis heute nichts von seiner Aktualität und Kraft eingebüsst hat, ist erwachsen aus den äusserst schwierigen Lebensumständen.

Das kürzlich erschienene Buch «Jeder sucht sein Paradies ...» bietet selbst eingefleischten Glauser-Kennerinnen und -Kennern einen neuen Zugang. Herausgeberin Christa Baumberger hat die Korrespondenz chronologisch angeordnet und in einzelne Kapitel unterteilt, vor denen jeweils Einleitungen angebracht sind.

Mehr als die Hälfte der Dokumente sind unpubliziert, insbesondere die Gesprächsprotokolle des Vormunds: Hier hört man erstmals Glauser sprechen, unverstellt und unmittelbar am Puls der Ereignisse.

«Blue News» publiziert exklusiv zwei Briefe, die Glauser an Martha Ringier, Redaktorin und Mundart-Dichterin (er schreibt «maman Marthe») und Friedrich Witz, einen Schweizer Journalisten und Verleger, geschrieben hat.

Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «blue News»-Regeln.


Friedrich Glauser an Martha Ringier

Angles, 29. Januar 1937

Liebe maman Marthe,

du siehst ich beantworte deinen Brief wie man so schön sagt, postwendend, denn er hat mich so gefreut und ich bin erlöst, dass die Mauer endlich wieder einmal eingefallen ist, dass ich dich nicht eine Stunde auf die Antwort warten lassen will. Gewiss, ich hab’ dir Un­­recht getan, das seh’ ich jetzt gut ein, aber es ist manchmal scheint es mir nötig, dies zu tun. Mir ist es auch ein paar Mal so gegangen, dass man mir Unrecht getan hat, dann kann man sich verteidigen, man kann reden miteinander oder einander schreiben, und dann ist die Sache viel weniger arg, als wenn man aneinander vorbeiredet. Und das hab ich so scheusslich gefunden, dass man aneinander vorbeiredet, es ist etwas, was ich nicht vertragen kann (von gleichgültigen Menschen schon, aber von andern, die man lieb hat, kann man es nicht verputzen).

Und gewiss, es wäre alles viel leichter, wenn wir miteinander hätten sprechen können. Aber nun ist es auch so gegangen, und dass du zwischen den Zeilen hast lesen können, dass ich nicht Vorwürfe machen will, sondern dich, die Entschwebende oder Sich-Versteckende noch am Rockzipfel hab erwischen können und festhalten (wie ich dir gestern schrieb) das freut mich und es freut Berthe und wir sind über deinen Brief sehr glücklich gewesen. Und dass du mir erlaubst, dir solche Sachen zu sagen, die, ohne Phrase, dem Schreibenden gerade so weh tun wie dem, der die Zeilen erhält, das ist auch gut und recht. Du musst mich nur nicht überschätzen. Ich muss immer auf langen Umwegen herumtorkeln, bis ich so etwas wie ein Ziel erreiche, und dann ist es eben auch kein Ziel, sondern man muss wieder weitergehen.

Ich komm mir manchmal, und du musst entschuldigen, dass ich wieder von mir anfange, wie ein abgehetzter Hase vor, der sich endlich in einer Ackerfurche vor den Hunden gerettet hat – die Hunde: Behörde, Amtsvormundschaft, Psychia­ter, Strafanstaltsdirektoren. Man hat ein wenig den Schnauf verloren, das muss sich alles zuerst beruhigen bevor es ein wenig Frucht tragen kann – soweit ein Gejagtsein Früchte tragen kann. Du musst mit mei­­­nen Gleichnissen nicht allzu streng ins Gericht gehen. Und das tust du ja auch nicht. Wohlverstanden, ich bitte nicht um Mitleid, ich komm’ schon zu Schlag, wenn man mich ein wenig in Ruhe lässt – nur mit der Schweiz soll man mich augenblicklich verschonen. Das will ich Schneider noch einmal klipp und klar schreiben.

Ich kann jetzt nicht wieder allein sein, in einem Sanatorium, in einer Heilstätte oder wie man diese menschenfreundlichen Einrichtungen nennt. Sonst fängt die ganze Opium-Schweinerei von vorne an. Ich weiss, wie die erstickende Luft in der Schweiz auf mich wirkt, die Schweiz ist nie meine Heimat gewesen, wenigstens kann ich sie nicht so empfinden. Frankreich – das ist etwas anderes. Es hat mehr Weite darin, weniger Behörden die einem ständig auf die Hühneraugen treten, man lässt fünf gerade sein, solange man sich ruhig verhält. Und ich mag jetzt nicht von Berthe fort. Sie braucht mich genauso wie ich sie brauche, mehr ist darüber nicht zu sagen. Dass staatlich angestellte Fürsorgebeamte so etwas nicht verstehen, ist begreiflich. Verzeih, maman Marthe, wenn ich dir mit dem «lebensfremd» zu nahe getreten bin. Ich weiss ja wenig von dir, ich weiss wenig von deiner Jugend, ich hab’ nur manchmal Angst du verknöcherst mir und nur aus der Angst her­­­aus hab ich dir so geschrieben. Dass du es verstanden hast ist schön und ich dank dir dafür.

Vorläufig beschäftigt mich die Geschichte mit Briner sehr arg. Dass ein Mensch unter etwas leiden soll, woran er unschuldig ist, kann ich nicht vertragen, besonders wenn die Ursache dazu eine spinnende Regierung ist. Briner schreibt übrigens sehr lieb, ich solle mir keine Gedanken machen, er werde für sich schon einen Ausweg finden und Schuldgefühle könne er keine aufbringen, er würde in der Situation, in der der «Matto» entstanden ist, ein anderes Mal genauso handeln wie diesmal. Ich tu mein Möglichstes. Ich habe an Oprecht geschrieben und ihm Vorwürfe gemacht, dass er mich nicht auf dem Laufenden gehalten hat und mich ihm zur Verfügung ge­­stellt, falls er einen Offenen Brief an die Berner Regierung brauchen könne. Ich hab genug Material um den Herren ein wenig unbequem zu kommen, ich habe wirklich ziemlich intensiv hinter die Kulissen schauen können – und schliesslich freut es mich, dass ich den Herren ein paar Sachen unter die Nase reiben kann, wenn sie fortfahren dumm zu tun. Nur muss ich eben warten, was Oprecht dazu meint, er ist schliesslich mein Verleger und ich kann ihm nicht in den Rücken fallen.

Der Band «Jeder sucht sein Paradies ...» wurde von Christa Baumberger herausgegeben und von Hannes Binder illustriert.
Der Band «Jeder sucht sein Paradies ...» wurde von Christa Baumberger herausgegeben und von Hannes Binder illustriert.
Bild: Limmat Verlag

Es freut mich, dass Kleiber der Anfang der «Fieberkurve» gefallen hat, weisst, es muss etwas anderes werden, als der «Schlumpf». So ein richtiges Märchen – ein Abenteuerroman mit vergrabenen Schätzen, aber besser motiviert, als [der «Schlumpf»] es war. Und womöglich nicht so kompliziert als der «Matto». Der «Matto» ist am Schluss zu kompliziert – vielleicht – besonders für Feuilletonredaktoren. Einfachere Menschen schlucken da nur und halten den Faden ganz schön fest.

Es ist kein Schnöden über Kleiber, aber die Fabel im «Matto» ist ja wirklich nur eine Folie, damit die Leute das Andere, das Wichtige: Pieterlen, Kollegialität, Organisation, Kampf zwischen alter und neuer Schule schlucken. Und fluchen dürfen die Leute soviel sie wollen. Sie werden doch nicht ableugnen können, dass eine Frauengestalt wie Frau Laduner doch etwas Neues ist, ein Typus, der einmal schweizerisch ist, ohne dass man, wie Herr Schaffner, immer den Zürcher Stadtschreiber imitiert. Ich muss mich direkt zwingen, die «Fieberkurve» fertigzumachen, denn ich möchte so gern einen Askona-Roman schreiben, in der Ich-Form, wo Studer in den Ferien in Locarno weilt und die ganze Geschichte aufdröselt.

Er ist noch Kommissär an der Stadtpolizei, das Ganze wird knapp nach dem Krieg spielen und vielleicht wirklich lustig werden. Lustig – sagen wir einen andern Ton haben, als die früheren. Ich habe Angst, in eine Manier zu verfallen, darum ändere ich immer meine Technik, damit man mir wenigstens nicht das vorwerfen kann. Natürlich begreife ich, dass der Wettbewerbsbeitrag Kleiber nicht gefallen hat. Das hängt aber nun wirklich mit meiner Arbeitsmethode zusammen. Diese lässt sich nicht vergewaltigen. Du weisst gut genug, dass ich den «Schlumpf» sowohl als auch den «Matto» acht Mal angefangen habe – bei diesem Roman wird es ganz gleich sein. Der Anfang wird sicher anders.

Und glaubst du nicht, du hättest grössere Freude, zu uns ans Meer zu kommen als in das mückenverseuchte Angles? Ich könnte auch dort besser schreiben. Wir haben beschlossen, bis Mitte März noch hier auszuhalten. Dann kann man es wagen dort hinunterzuziehen. Unser Hof ist ein grosser See, in dem man versinkt. Es regnet ununterbrochen. Aber ich mache mir keine Gedanken mehr. Es wird schon einen Ausweg geben. Nicht wahr? Nur nicht kleinmütig sein, es ist bis jetzt immer noch irgendwie gut gekommen.

Nochmals vielen Dank für deinen Brief und wir haben dich beide sehr sehr lieb. Deine beiden

Mulet und Geiß

Berthe lässt dir noch sehr für die Hemdli danken, sie kann sie gut brauchen und sie wird dir schreiben, sobald sie wieder auf dem Damm ist.


Friedrich Glauser an Friedrich Witz

F. Glauser, Angles Gué de Longroi, Eure et Loir

8. Februar 1937

Lieber Herr Doktor,

Ihr lieber Brief hat mir so gut getan, besser als alle Medizin. Es ist manchmal wirklich eine Schweinerei auf dieser Erde. Die Werkbe­leihungskasse hat mir, glaub ich, etwas auf die «Fieberkurve» bewilligt, aber ich kann vom Sekretär keine Antwort bekommen, sodass alles im Blauen schwebt, und man nicht weiss, wie sich kehren. Darum erlaube ich mir, Ihnen eine längere Legionsnovelle zu schicken, die Ihnen vielleicht gefallen wird. (Das haben Sie nun davon, dass Sie mir freundliche Briefe schreiben.)

Denn ich stecke arg im Dreck, finanziell, s’entend, und da wäre ich Ihnen weiss Gott wie dankbar, wenn Sie für die Novelle Verwendung hätten und Sie abdrucken könnten. Vielleicht wäre es gar nicht so ungünstig. Sie ist doch so konstruiert, dass Sie ruhig nach Seite 10 abbrechen und in einer andern Nummer fortfahren können. Und zu gleicher Zeit wäre es gar nicht so dumm (scheint es mir in meiner Naivität) denn das bringt meinen Namen wieder in Erinnerung und Sie können «immer mal wieder» wie Professor Unrat sagt, den «Wachtmeister Studer» in Erinnerung bringen.

Machen Sie sich übrigens darauf gefasst, dass ich Herrn Stefan Brockhoff in einem Offenen Brief antworten werde. Wollen Sie nicht, im Anschluss an den Brief, eine Art Wettlauf inscenieren? Die Leser der «Z.I.» sollen Stimmen abgeben, welche Art Kriminalroman sie lieber wollen, Glauser oder Brockhoff.

Das brächte ein wenig Leben in det Janze (wie der Berliner sagt) und wäre, scheint mir eine so üble Reklame nicht. Was nämlich Herr Brockhoff erzählt (ich will ihm beileibe nicht zu nahe treten, in Sachen Konstruktivität ist er mir sicher überlegen) ist fast wortwörtlich aus den Statuten des Londoner Detection Clubs genommen (der Club besteht aus Kriminalromanschriftstellern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Niveau des Kriminalromans zu heben und unter den Mitgliedern zählt man einige Leute, die etwas können: vorab Chesterton mit seinem Father Brown, eine neue Art Detektiv, Dorothy Sayers mit ihrem Lord Peter, Agatha Christie mit ihrem Hercule Poirot und Crofts, Fielding etc etc). Das würde ich gern er­­­­wähnen.

«Ihr lieber Brief hat mir so gut getan, besser als alle Medizin. Es ist manchmal wirklich eine Schweinerei auf dieser Erde»: Schriftsteller Friedrich Glauser in einem Brief an Friedrich Witz. Das Bild wurde im Jahr 1931 in Münsingen BE aufgenommen.
«Ihr lieber Brief hat mir so gut getan, besser als alle Medizin. Es ist manchmal wirklich eine Schweinerei auf dieser Erde»: Schriftsteller Friedrich Glauser in einem Brief an Friedrich Witz. Das Bild wurde im Jahr 1931 in Münsingen BE aufgenommen.
Bild: Keystone

Und dann ein wenig den Ruhm meines Lehrers singen, Georges Simenon, der den Kriminalroman nicht logisch deduktiv – also Cartesianisch oder Kantisch, wie Sie wollen – aufbaut – sondern Bergsonisch. Nicht deduktiv, sondern induktiv. Nicht aus Tatsachen das Schlussresultat absummieren, sondern aus der Atmosphäre, aus der Psychologie der Handelnden die Lösung blühen lassen. Sie können, wenn Sie wollen, den Brief in den nächsten Tagen haben. Heut bin ich ein wenig müde, die Novelle, die ich Ihnen schicke, hat mir allerlei zu schaffen gemacht. Aber vielleicht finden Sie sie schlecht, können sie nicht brauchen, dann schicken Sie dieselbe ohne Gewissensbisse zurück. Sollten Sie sie jedoch brauchen können, dann habe ich eine grosse Bitte: Schicken Sie mir das Honorar womöglich gleich (ich weiss, die Firmakasse! Aber bei Bucher mag ich nicht betteln gehen) und wenn Sie es ohne zu grosse Unannehmlichkeiten für Sie richten könnten, wäre Ihnen der Verfasser des Studer sehr, sehr dankbar.

Mehr brauch’ ich wohl nicht zu sagen. Und einem andern gegenüber würd ich nicht so offen schreiben – doch, Marti vom «Bund» vielleicht, aber dem geht es auch schlecht mit seiner Lunge, und ich mag ihn nicht mit meinen Schmerzen auch noch belasten. Denken Sie nur an eins, lieber Herr Doktor, dass ich ganz auf dem Hund bin. Aber diesmal kann ich Ihnen die «Fieberkurve» auf Ende Februar versprechen (früher werden Sie sie kaum brauchen) nur sollt ich ein wenig schnaufen können. Und eines müssen Sie mir wirklich glauben: wenn Sie die Novelle nicht brauchen können, werd’ ich sicher nicht die gekränkte Leberwurst spielen. Diese Rolle liegt mir gar nicht.

Sehr herzlich und mit vielem Dank Ihr Glauser

Ändern Sie mir ruhig den Titel, wenn er Ihnen nicht passt. Und nicht wahr, ich bin kein «Düchter». Alle Leute wollen partout, daß ich ein Düchter sei. Und ich bin wirklich nur ein Handwerker, der im Schweiße seines Gehirns sein Metier lernt.


Bibliografie: «Jeder sucht sein Paradies ...», Briefe, Berichte, Gespräche, herausgegeben von Christa Baumberger, mit Illustrationen von Hannes Binder, Limmat Verlag, 520 Seiten, 85 Abbildungen und Dokumente, 64 Fr.