Bötschi fragt Jessica Jurassica: «Weil ich gut bin»

Von Bruno Bötschi, Frauenfeld

31.12.2021

«Ich habe so meine Probleme mit dem Kanton Appenzell Ausserrhoden. Ich bin dort aufgewachsen, fühlte mich aber irgendwie fremd»: Jessica Jurassica.
«Ich habe so meine Probleme mit dem Kanton Appenzell Ausserrhoden. Ich bin dort aufgewachsen, fühlte mich aber irgendwie fremd»: Jessica Jurassica.
Bild: Die yungen huren dot hiv

Die Frau mit Maske legt sich gerne mit mächtigen weissen Männern an und entlarvt frauenfeindliche Strukturen: Jessica Jurassica, 27 spricht über ihren ersten Roman, sagt, warum sie die Provinz als kreativ empfindet und verrät, welche Frau sie gerne als nächste Bundesrätin hätte.

Von Bruno Bötschi, Frauenfeld

31.12.2021

Restaurant Promenade, Frauenfeld. Sie sitzt da, trägt ein schwarzes T-Shirt mit Aufdruck, raucht eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen. 45 Minuten Interview mit Jessica Jurassica, der Heldin aller emanzipierten jungen Frauen in diesem Land, die so wunderbar aggressiv schreiben kann, dass mächtige weisse Herren mit Krawatten sich schrecklich darüber ärgern.

Die 27-Jährige kennt in ihren Texten über Drogen, Bundesrat Alain Berset und Sex wenig Tabus, gleichzeitig macht sie aus ihrer Identität ein Geheimnis. Auf Bildern und der Bühne trägt die Frau, die im Appenzeller Hinterland aufgewachsen ist und seit einigen Jahren in Bern lebt, eine weisse Sturmmaske.

Jessica Jurassica, die ihren bürgerlichen Namen nicht verrät, verweigert sich «gängigen Weiblichkeitsidealen». Zum ersten Mal für Aufsehen sorgte sie im Sommer 2018, als sie im Kulturblog der Zeitung «Bund» einen Text über Pietro Supino, den Verwaltungsratspräsidenten der TX Group, veröffentlichte und danach als Schreiberin entlassen wurde.

Jessica Jurassica «schafft an Orten Literatur, wo sie niemand erwartet: auf Facebook, Twitter, Tripadvisor», schrieb die NZZ kürzlich. Nun ist ihr erster Roman mit dem Titel «Das Ideal des Kaputten» erschienen.

Das Beste von 2021

Zum Jahresende bringt blue News die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 28. April 2021.

Die Autorin nimmt es gleichmütig hin, dass dies ein Interview der anderen Art geben soll, mit vielen Fragen und noch mehr Antworten. Sie sagt: «Ich wollte noch ein paar Interviews von dir lesen, habe es dann aber vergessen.» Es scheint, sie will endlich erlöst werden von der Corona-Lockdown-Langweile, die Künstlerinnen und Künstler seit über einem Jahr bedroht.

Jessica Jurassica, danke, dass du dir Zeit nimmst für dieses Interview.

Gern geschehen.

Wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle dir in den nächsten 45 Minuten möglichst viele Fragen und du antwortest möglichst schnell und spontan. Passt dir eine Frage nicht, sagst du einfach ‹weiter›.

Okay.

Die ersten beiden Fragen werden mir immer als Erstes angezeigt, wenn ich deinen Twitter-Account anschaue: Wer ist diese junge Frau? Warum provoziert sie?

Ich finde diese Fragen so seltsam, dass ich gar nicht weiss, wie ich sie beantworten soll. Das haben sich ja andere über mich gefragt.

Hast du schon entschieden, welchen Modus du für unser Interview fahren wirst: verletzlich/soft, lethargisch/nihilistisch, energisch oder einfach komplett asozial?

Eher lethargisch/nihilistisch. Das ist immer von der Tagesform abhängig. Ich bin erst vor zwei Stunden aufgestanden.

Dauerte die letzte Nacht derart lange oder schläfst du einfach gern aus?

Ich brauche viel Schlaf, ausserdem habe ich morgens nie Termine, weshalb ich meinen Night-Life-Rhythmus von meiner Arbeit an der Bar beibehalten habe.

Wir treffen uns heute im Restaurant Promenade, genannt ‹Bumä›, in Frauenfeld.

Frauenfeld ist lustigerweise zu einem meiner kreativen Hotspots geworden. Ich habe in der Stadt verschiedene Projekte am Laufen, mein Label ‹die yungen huren dot hiv› ist hier ansässig genauso wie mein Musikduo ‹Capslock Superstar›.

Wie fördert Frauenfeld deine Kreativität?

Ich arbeite gern in der Provinz, weil das Provinzielle kreatives Potenzial hat. Mich interessiert fast mehr, was an Orten wie Frauenfeld passiert, als was in Zürich los ist. In Deutschland ist es ja noch krasser, dort gehen ‹alle› nach Berlin, ich hingegen bin lieber in Tuttlingen im Donautal.

Was stört dich an Grossstädten?

Zum Autor: Bruno Bötschi
Bild: zVg

«Blue News»-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten. Bötschi hat viel Erfahrung mit Interviews. Für die Zeitschrift «Schweizer Familie» betreute er jahrelang die Serie «Traumfänger». Über 200 Persönlichkeiten stellte er dafür die Frage: Als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich? Das Buch zur Serie «Traumfänger» ist im Applaus Verlag, Zürich, erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich.

In Städten wie Berlin und Zürich hast du alles und alle machen irgendetwas und daraus entsteht so ein Konkurrenzding, wer was besser macht und wer alles im Backstage-Bereich herumhängt. In Frauenfeld ist das anders, hier kennt man sich untereinander und die Menschen, die da sind, finden: ‹Hey cool, bist du auch da.›

Was nervt dich an Frauenfeld?

Dass am Bechtelistag, dem höchsten Feiertag der Stadt, die Frauen immer noch ausgeschlossen sind und nicht am Bürgermahl der Konstablergesellschaft teilnehmen dürfen. Es wäre Zeit, dies endlich zu ändern.

Ich bin in Frauenfeld aufgewachsen, die Stadt ist zudem mein Heimatort. Als ich noch ein Kind war, hiess es immer: Die Schweiz hört hinter Winterthur auf.

Ist das wahr?

Ja. Ich fand den Spruch aber gar nicht so schlimm – so machten uns keine Zürcherinnen und Zürcher die Plätze in der Gartenbeiz vom ‹Bumä› streitig. Hier wird nämlich das weltweit beste Soft-Ice serviert, zumindest war das so, als ich noch ein Teenager war.

Ach so, die Zürcherinnen und Zürcher kamen früher nie nach Frauenfeld. Mir ging es ähnlich: Ich habe St. Gallen, die Metropole meiner Jugend, auch als Sackgasse empfunden, weil dahinter nicht mehr viel mehr als Österreich kam.

Du bist im Appenzeller Hinterland aufgewachsen. Heimat, was bedeutet das für dich?

Das ist schwierig zu erklären. Ich habe ein zerrissenes Verhältnis zu meiner Heimat. Ich habe so meine Probleme mit dem Kanton Appenzell Ausserrhoden. Ich bin dort aufgewachsen, fühlte mich aber irgendwie fremd. Ich ging dann aber auch nicht wirklich freiwillig weg nach Bern. Wer jedoch studieren will, muss die Ostschweiz verlassen, ausser sie oder er studiert Wirtschaft in St. Gallen. Ich weiss bis heute nicht wirklich, was ich mit dem Appenzellerland anfangen soll, auch deshalb, weil in den letzten Jahren Bern schon sehr mein Daheim geworden ist. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass ich in dieser Stadt nicht aufgewachsen bin.

Was gibt es noch über das Appenzeller Hinterland zu erzählen?

Einerseits habe ich die Region immer als einengend empfunden. Andererseits empfand ich die Landschaft mit den vielen Hügeln auch als extrem schön. Wer im Tal unten wohnt, sieht jedoch im Winter die Sonne kaum. Das Appenzeller Hinterland ist sehr isoliert, sehr konservativ und misogyn, gerade wenn es um das Brauchtum und die Traditionen geht. Die Geschichte mit der späten Einführung des Frauenstimmrechts sitzt immer noch sehr tief. Bis heute dürfen die Frauen bei den meisten Bräuchen nicht aktiv teilnehmen, entweder nähen sie die Kleider oder sie schenken Schnaps aus.

Warst du während der Schulzeit beliebt oder unbeliebt – und was hast du daraus gelernt?

Ich war eine Aussenseiterin, hatte aber trotzdem Freunde. Und ich denke, ich war etwas seltsam, aber das bin ich auch heute noch.

Wie meinst du ‹seltsam›?

Ich war als Jugendliche schon sehr androgyn unterwegs, entsprach nicht dem traditionellen Rollenbild einer jungen Frau. Meine Eltern liessen mir diesbezüglich immer viele Freiheiten. Sie versuchten nur einmal, da war ich vier Jahre alt, mir einen Rock anzuziehen. Ich fing direkt an zu weinen und danach haben sie es auch nie mehr versucht.

Dein revolutionärster Gedanke als Zwölfjährige?

Ich weiss nicht mehr genau, was ich damals dachte.

Als du 13 warst, habe ich gelesen, hat deine Klasse einen Fussballmatch gegen die aus dem Nachbarsdorf gespielt – also nur die Buben.

Meine Eltern haben mir ein egalitäres Familienmodell vorgelebt. Ich empfand es deshalb als extrem unfair, dass wir Mädchen nicht mitspielen durften und war total wütend.

Was sagtest du zu deinem Lehrer?

Ich sagte: ‹Dann kann ich jetzt ja nach Hause gehen.›

Was antwortete der Lehrer?

‹Nein, du bleibst hier.› Die Buben brauchten uns Mädchen ja, damit sie sich nach einem Tor feiern lassen konnten. Ich sass also am Rand des Spielfelds und fand es scheisse. Aber was sollte ich als 13-jähriges Mädchen in so einer Situation sonst auch tun?

«Ich war als Jugendliche schon sehr androgyn unterwegs, entsprach nicht dem traditionellen Rollenbild einer jungen Frau»: Jessica Jurassica.
«Ich war als Jugendliche schon sehr androgyn unterwegs, entsprach nicht dem traditionellen Rollenbild einer jungen Frau»: Jessica Jurassica.
Bild: Jeremias Heppeler

Wie ist es, als Frau in einer von Männern dominierten Welt aufzuwachsen?

Für mich als introvertierten und beobachtenden Menschen war die Erkenntnis, dass ich als Frau keine aktive Rolle in der Gesellschaft innehaben soll, am Anfang eine grosse Hürde. Ich zog mich zurück und brauchte später ziemlich lange, um mich entfalten zu können und eine Stimme zu finden. Meinen ersten Text veröffentlichte ich mit 25.

Warum haben Männer immer noch das Gefühl, sie würden nicht unter dem Patriarchat leiden?

Das müsstest du die Männer fragen – die Antwort lautet wahrscheinlich: Sie profitieren von dem Umstand.

Was braucht es, um reale Gleichberechtigung zu erlangen?

Viel Reflexion.

Deine Schätzung bitte: Das Ablaufdatum des Patriarchats?

Uff … ich denke, zuerst verbrennen wir alle Menschen wegen des Klimawandels.

Die ganze Welt, also wirklich alle Menschen, hören dir für 15 Sekunden zu: Was sagst du ins Mikrofon?

Wie lange habe ich Zeit, um darüber nachzudenken, was ich sagen will? Ich bin jemand, der sehr lange nachdenkt, bevor er etwas sagt, deshalb geht das jetzt nicht einfach so.

Wieso hast du als Künstlerinnen-Namen den Nachnamen ‹Jurassica› und nicht ‹Alpsteinica› gewählt?

Die Jurassier sind schon etwas rebellischer und besser drauf.

Hast du einen persönlichen Bezug zur Kreidezeit?

Nein.

Blöde Frage: Wieso trägst du auf der Bühne eine Sturmmaske und stehst nicht zu deiner Identität?

Das hat sich so ergeben, ist aber auch ein Schutz. Zugleich macht es Spass, als popkulturelles Element mit einer Maske aufzutreten. Während dieser Performance kann ich meine extrovertierte Seite ausleben.

Wann hast du zum ersten Mal eine Maske getragen?

Das war 2018 während der Preisverleihung zum ‹Literaturland Schreibwettbewerb› vom Amt für Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Nachdem ich als Preisträgerin angefragt worden bin, eine Dankesrede zu halten, ist das ziemlich spontan passiert. Ich war bei einem Freund auf Besuch und da lag eine Sturmmaske herum. Ich zog sie an und wir produzierten eine Video-Dankesrede, die dann während der Verleihung gezeigt wurde.

Es heisst, du wolltest damit dem Konzept der gesichtslosen digitalen Kunstfigur gerecht werden.

So ist es.

Wo kaufst du deine Sturmmasken?

Weiter.

Wie viel kostet eine Maske?

9.10 Franken.

Wie viele Masken besitzt du aktuell?

Ungefähr 13.

Ich bekomme wegen der Corona-Masken Hautirritationen hinter den Ohrläppchen. Mag deine Haut deine Masken?

Meine Masken sind aus Baumwolle.

Schon mal mit der Sturmmaske auf dem Kopf eingeschlafen?

Nein.

Wird Schlafen allgemein überschätzt?

Nein.

Viele Menschen träumen davon, ein Buch zu schreiben. Du hast innerhalb der letzten zwölf Monate sogar zwei Bücher publiziert. Tut dir das Schreiben gut?

Den Roman ‹Das Ideal des Kaputten› zu schreiben, tat mir gut. Es war ein Verarbeitungsprozess und deshalb mega heilsam. Es war übrigens aber nicht so, dass ich dachte: Ich schreibe jetzt ein Buch.

Sondern?

Ich fing einfach an zu schreiben, bis ich irgendwann realisierte, dass die Geschichte so lang ist, dass sie in ein Buch passen würde. Die erotische Geschichte über Bundesrat Alain Berset zu schreiben, tat mir hingegen nicht gut.

Warum nicht?

Schreibe ich fiktional, realisiere ich irgendwann: Fuck, jetzt muss ich mich auch noch den Problemen von meinen Romanfiguren annehmen. Dann werden deren Probleme zu meinen Problemen und ich denke: Ich habe doch selber schon genug Probleme.

Musst du das alles loswerden – oder willst du?

Ich glaube weder noch … oder nein, ich will und es tut mir gut. Zudem finde ich, es ist eine wichtige und eine legitime Sicht der Dinge, denn die weibliche Perspektive ist in der Literatur nach wie vor unterrepräsentiert. Lese ich Bücher von Frauen, die autofiktional oder autobiografisch geschrieben sind, spüre ich immer eine grosse Sehnsucht in mir, noch mehr solche Bücher zu lesen.

«Schreibtechnisch befinde ich mich gerade in einer schwierigen Phase. Im Moment beschäftige ich mich mehr mit Musik. Ich will Trap-Star werden»: Jessica Jurassica.

Bild: Youtube

Welche Bücher von Frauen willst du den Leserinnen und Lesern von ‹blue News› ans Herzen legen?

Gleichzeitig mit meinem Roman ist im selben Verlag das Buch ‹Kapitulation› von Michèle Minelli erschienen. Wir sind nicht aus derselben Generation und trotzdem finde ich, unsere beiden Bücher passen gut zusammen. Äusserst lesenswert finde ich zudem das autobiografische Romandebüt ‹Häutungen› von Verena Stefan und ‹Erinnerungen eines Mädchens› von Annie Ernaux, in dem die Autorin über ihre erste sexuelle Begegnung schreibt. Und nicht zu vergessen: Dora Koster und ihr autobiografischer Bericht ‹Nichts geht mehr›.

Ich las vor Kurzem das ‹Ministerium der Träume› von Hengameh Yaghoobifarah. Hast du diesen Roman auch gelesen?

Ja – und er hat mich total gepackt. Hengameh ist eine starke und ganz wichtige Stimme; auch deshalb, weil sie eine non-binäre Person mit Migrationsgeschichte ist.

Ein ausgefallener Glücksbringer auf deinem Schreibtisch?

Ein Aschenbecher.

Ich nenne dir vier Jessica-Jurassica-Sätze und du sagst bitte, was sie bedeuten: ‹Ich will dorthin, wo Reibung entsteht.›

Es ist das, was mich am allermeisten interessiert: Reibung macht Machtstrukturen sichtbar, und um das geht es mir.

‹Ich habe mir eine aggressiv wirkende, androgyne Figur geschaffen und verweigere mich mit diesem Akt der Selbstermächtigung gängigen Weiblichkeitsidealen.›

Ich wollte nicht als Frau an die Öffentlichkeit treten, aber natürlich mache ich das trotzdem, denn Jessica ist ein typischer Frauenname. Aber ich habe keinen Bock, als Frau gelesen zu werden, weil man sonst sofort auf das Frausein und den Körper reduziert wird.

‹Ich kam so auch in eine Machtposition: Die Leute haben mir plötzlich zugehört.›

Mit meinen Texten erzeuge ich einen Hype und werde sehr breit in den Medien rezipiert. Dabei lege ich mich mit Menschen an, die zehn- oder hundertmal mehr verdienen als ich, also ökonomisch viel mächtiger sind, weil es halt reiche weisse Männer sind. Gleichzeitig erschaffe ich mir mit dieser Aufmerksamkeitsökonomie aber auch eine Art Macht.

‹Ich glaube, ich habe ein recht gutes Gespür, um auf der Grenze zu balancieren. Zu weit darf man auch nicht gehen.›

Ich muss achtgeben, dass meine Texte nicht kippen, sie also nicht zu primitiv werden. Was ich über Alain Berset und Pietro Supino geschrieben habe, war ja schon etwas daneben. Es ist ein Balanceakt, bei dem ich die vorhandenen Machtstrukturen berücksichtigen muss. Ich darf ein bisschen zu weit gehen, aber doch nicht zu weit, denn sonst würden die Leserin oder der Leser denken: Fuck, dieser Text ist jetzt aber nur daneben. Ginge ich zu weit, würde mir irgendwann niemand mehr zuhören, weil alle denken würden: Was macht die da? Das ist doch alles nur abstossend.

Wie schaffst du es bei diesem Balanceakt, nicht abzustürzen?

Darüber denke ich nicht nach, während ich schreibe. Ich vertraue auf meine Intuition.

Hat sich Pietro Supino, der Verwaltungsratspräsident der TX Group, eigentlich je bei dir persönlich gemeldet?

Was denkst du?

Ich denke nicht.

Wie und was da im Sommer 2018 alles abgelaufen ist, weiss ich nicht. Irgendwann hiess es einfach, die ‹ganz oben› hätten keine Freude gehabt an meinem Text mit dem Titel ‹Pietro Supino, ich frage mich, ob du meine Texte liest› auf dem Blog ‹KulturStattBern›. Ich dürfe deshalb nicht mehr schreiben. Ich weiss jedoch bis heute nicht, wer die ‹ganz oben sind›, ob das der Chefredaktor ist, die Mantelredaktion in Zürich oder ob es Herr Supino höchstpersönlich war.

Auf Seite acht deines neuen Romans ‹Das Ideal des Kaputten› schreibst du wieder über Herr Supino. Wirklich wahr, dass deswegen im ‹Tages-Anzeiger› keine Kritik über deinen Roman erscheinen darf?

Keine Ahnung, ob dem so ist. Aber es würde mich nicht verwundern, ich weiss ja, wie fragil so ein Konstrukt ist und dass bereits ein einziger Satz Grund dafür sein kann, dass über ein Buch nicht geschrieben werden darf.

Wie gut kannst du mit Kritik umgehen?

Kritik kann ich gut annehmen, Hass oder Missgunst weniger. Oft wird mir ja vermittelt, ich solle ruhig sein, weil ich zu ‹frech› bin. Damit kann ich umgehen, weil es für mich keine legitime Kritik ist.



Peter Stamm ist der andere prominente Mann, den du in deinem neuen Roman erwähnst. Hat sich der Bestsellerautor bei dir persönlich gemeldet?

Nicht persönlich, aber er hat, nachdem im Ostschweizer Kulturmagazin ‹Saiten› eine Kritik zu meinem Buch erschienen ist, zwei Kommentare auf der Website des Magazins veröffentlicht.

In einem dieser Kommentare schreibt Stamm: ‹Ich hoffe, dass auch mein Erfolg weniger mit meinem Geschlecht als mit der Qualität meiner Texte zu tun hat. Mein erster Verlag wurde übrigens von zwei Frauen geleitet, mein jetziger Verlag wird ebenfalls von einer Frau geleitet. Die Cheflektorin ist eine Frau. Im September kuratiere ich die Wiesbadener Literaturtage, zu denen ich fünf Frauen und zwei Männer eingeladen habe. So weit zu den Fakten. Inwieweit ich eine ‹Metapher für das Patriarchat› bin, mögen andere entscheiden. Oder wir lassen diesen Streit einfach und kümmern uns um unsere Bücher, was ohnehin viel spannender und ergiebiger ist.›

Ich habe keinen Streit mit Peter Stamm. Möglicherweise hat er mein Buch auch gar nicht gelesen, denn ich schreibe einigermassen differenziert über ihn. Aber wer weiss, vielleicht hat er sich auch mehr über den Text der ‹Saiten›-Journalistin geärgert als über meinen Roman.

Wirst du auf die beiden Internet-Kommentare von Peter Stamm noch reagieren?

Nein.

Wie ist der aktuelle Stand eurer Auseinandersetzung?

Ich erwähne Peter Stamm in meinem Roman in drei Abschnitten. Dabei dekonstruiere ich mich quasi selber, weil ich aus ihm meinen Antagonisten mache. Das ist alles, was ich zu ihm sagen wollte. Mich haben die beiden Internet-Kommentare von Stamm wirklich überrascht. Haben ihn die drei Abschnitte in meinem Buch wirklich derart getroffen? Stamm ist Bestseller-Autor und gewinnt seit Jahren fast jedes Jahr einen Preis für seine Bücher, ich hingegen habe jetzt gerade mal einen Roman publiziert. Ich finde, Peter Stamm kann es doch egal sein, was ich über ihn schreibe. Jetzt kommt da eine junge Frau und pisst ihm ans Bein, das ist er sich aber scheinbar nicht gewohnt. Vielleicht stimmt es halt doch, was ich in meinem Roman schreibe. Vielleicht hat er Angst, dass seine Zeit abgelaufen ist, also die Zeit von weissen Männern in relativ einflussreichen Positionen. Aber ich habe zu Peter Stamm alles gesagt, er interessiert mich nicht mehr.

Was ist schlimmer: beschuldigt oder bemitleidet zu werden?

Bemitleidet werden – weil man darauf nicht akkurat reagieren kann und in die Opferrolle gedrängt wird.

Deine letzte Straftat?

War das Schreiben der erotischen Geschichte über Alain Berset eine Straftat? Ansonsten habe ich in den letzten Monaten sicher einmal Drogen konsumiert, was illegal ist. Oder ist das Konsumieren nicht mehr illegal?

Wahrscheinlich ist das, wie vieles andere auch, in der Schweiz von Kanton zu Kanton verschieden.

(Lacht)

Willst du eigentlich Hazel Brugger als sogenannte ‹böseste Frau der Schweiz› ablösen?

Hazel ist ja keine richtige Schweizerin mehr, nachdem sie vor einigen Jahren nach Köln, Deutschland, gezogen ist (lacht). Aber bin ich böse? Und ist Hazel böse? Die ‹böseste Frau der Schweiz› ist doch nur ein Label. Ich finde es ein dummes Label und will das deshalb nicht sein.

«Ich muss achtgeben, dass meine Texte nicht kippen, sie also nicht zu primitiv werden. Was ich über Alain Berset und Pietro Supino geschrieben habe, war ja schon etwas daneben»: Jessica Jurassica.
«Ich muss achtgeben, dass meine Texte nicht kippen, sie also nicht zu primitiv werden. Was ich über Alain Berset und Pietro Supino geschrieben habe, war ja schon etwas daneben»: Jessica Jurassica.
Bild: Olivia Talina Fosca

Dein Lieblingsdrink?

Fuck, es ist schon so lang her, dass die Clubs zum letzten Mal offen waren … Rich Secco oder ein Anker Bier.

Wie viel Glas Bier braucht es, bis du betrunken bist?

Im Moment reichen zwei Glas Bier, damit ich am nächsten Tag einen Kater habe. Wahrscheinlich haben mich die letzten Monate ohne Ausgang einfach alt werden lassen.

Und ernsthaft?

Ich betrinke mich zurzeit nicht mehr, weil wegen der Corona-Pandemie der ausgelassene Kontext fehlt.

Dein lustigstes Alkohol-Erlebnis?

Ich war einmal mit Freundinnen und Freunden in einer Bar in Bern. Irgendwann dachten die, ich sei heim und gingen auch alle, dabei sass ich mit zwei Dudes an der Bar, die mir Gin Tonics offerierten. Ich war gerade in einer manischen Phase und total tough und gescheit drauf und konnte mich gut ausdrücken – zumindest waren die beiden Geschäftsherren derart von meinem betrunken-manischen Monolog beeindruckt, dass sie mir einen Job im Management ihrer Firma anboten. Irgendwann konnten sie dann aber doch nicht richtig damit umgehen, dass ich eine Frau bin und haben mich angemacht. Danach bin ich gegangen.

Deine letzte Demo?

‹Black Lives Matter› im Sommer 2020 und danach im Herbst der Gastro-Streik in Bern.

Wann hast du dich zuletzt über deine eigene Ahnungslosigkeit geschämt?

Ich habe ein Problem mit Memes. Ich würde sie gern verstehen, tue es oft aber nicht.

Grundsätzlich, sind junge Menschen klüger als alte?

Nein.

Wann hattest du zum ersten Mal das Gefühl, mächtig zu sein?

Wenn sich Menschen, die viel mächtiger sind als ich, sich von mir angegriffen fühlen.

Welches Gesicht hat das Böse?

Christoph Blocher hat etwas vom Teufel. Elon Musk und Mark Zuckerberg find ich auch richtig gruselig.

Was ist deine allererste Erinnerung an Politik?

Wahrscheinlich der Nachmittag, als meine Mutter bei uns im Dorf ein Plakat von irgendeinem SVP-Politiker heruntergerissen hat.

Gehst du regelmässig abstimmen und wählen?

Ja.

Könntest du jemanden küssen, der aus deiner Sicht falsch wählt?

Keine Ahnung, ob das relevant ist.

Bei welcher Schweizer Politikerin denkst du: Wow, die sollte viel mehr Macht haben?

Parteipolitik interessiert mich nicht besonders, aber Jacqueline Badran hätte ich gern als Bundesrätin.

Bei welchen Schweizer Politikern geht dir, nur wenn du schon den Namen hörst, der Laden runter?

Die beiden SVP-Claudios. Ich weiss gar nicht, wie die zum Nachnamen heissen, mich nervt nur schon, wenn ich einen Post von denen auf Twitter sehe.

Deine Schnellkritik am Papst?

Keine Ahnung, interessiert mich nicht.

Zwei, drei Sätze bitte zu Alice Schwarzer?

Puhh, ich denke, sie hat einmal wichtige Arbeit geleistet, ist jetzt aber rassistisch und transphob abgedriftet. Unchilliger Vibe!

Warum muss man Angela Merkel einfach gernhaben?

Ich weiss nicht, ob man Frau Merkel gernhaben muss, aber man muss anerkennen, dass sie einen sehr guten Job macht. Sie betreibt stabile Sachpolitik.

Deine Meinung über Operation-Libero-Gründerin Flavia Kleiner?

Habe ich keine.

Sind Frauen vielleicht doch irgendwie die besseren Menschen?

Nein.

Warum hast du es verdient, gehört zu werden?

Weil mein Perspektive wichtig ist und weil ich gut bin.



Würdest du eine Einladung vom Nationalratspräsidenten Andreas Aebi annehmen, im Nationalrat eine Rede zur Lage der Nation zu halten?

Herrscht im Nationalrat ein Verhüllungsverbot?

Du würdest demnach die Rede halten, wenn du mit der Maske auftreten könntest?

Ja – ich würde es auch in der Burka tun, das wäre aber wohl etwas aneignend.

Wann müssen Frauen keine Masken mehr anziehen, wenn Sie klug, vorlaut und frech argumentieren wollen?

Gegenfrage: Wann werden Frauen nicht mehr als ‹vorlaut› und ‹frech› betitelt? Es braucht noch viele Lernprozesse darüber, dass die weibliche Perspektive genauso wichtig ist wie die männliche, damit Frauen überhaupt als Subjekt wahrgenommen werden. Das könnte ein Anfang sein und würde dafür sorgen, dass Frauen nicht ständig Objekt sind, sondern Subjekt.

Wann ziehst du deine Maske aus und gehst ohne auf die Bühne?

Das ist im Moment kein Plan von mir.

«Parteipolitik interessiert mich nicht besonders, aber Jacqueline Badran hätte ich gern als Bundesrätin»: Jessica Jurassica.
«Parteipolitik interessiert mich nicht besonders, aber Jacqueline Badran hätte ich gern als Bundesrätin»: Jessica Jurassica.
Bild:  Hatepop

Achtung, zum Schluss jetzt noch ein paar blöde Fragen: Warum hast du, obwohl du viel berühmter bist als ich und viel regelmässiger als ich Posts absetzt, auf Twitter nur 200 Followerinnen und Follower mehr als ich?

Ich bin ein It-Girl und behaupte einfach, ich sei berühmt. Und das Geile daran: Die Leute glauben es, obwohl es gar nicht stimmt. Ich bin zwar oft in den Medien und gemessen an meinen Followerinnen und Followern auf Instagram jetzt immerhin eine Mikro-Influencerin.

Kannst du etwas, auf das keiner deiner Freundinnen oder Freunde kommen würde – also zum Beispiel Makramee-Knüpftechnik, Aquarellzeichnen, ein Gedicht von Walther von der Vogelweide rezitieren?

Ich kann Makramee, aber meine Freundinnen und Freunden wissen, dass ich einmal ein Hippie war. Ich bin ein sehr transparenter Mensch.

Was hast du anderen Menschen öfter geraten: A) sich zu trennen? B) sich nicht zu trennen?

Ich glaube, A.

Hast du einen Führerschein?

Nein.

Wo wärst du genau jetzt gern, wenn du dich frei auf dem Planeten bewegen könntest?

Ganz profan am Mittelmeer oder in Buenos Aires.

Wenn die Welt in 365 Tagen untergehen würde – was wäre dann deine Aufgabe? Du darfst allerdings keinen Baum pflanzen.

Wieso soll ich einen Baum pflanzen wollen, wenn die Welt untergeht? Hedonismus wäre wohl angebracht und sich gut um Mitmenschen kümmern, damit alle noch eine Okay-Zeit haben.

Wäre Drogennehmen eine Variante?

Bedingt. Für mich sind Drogen nicht mehr so hedonistisch, wie sie es einmal waren. Drogen tun mir nicht nur gut.

Das ist etwas, was mich in deinem Roman ‹Das Ideal der Kaputten› verwundert hat: Die Protagonistin nimmt ziemlich viele Drogen, ist aber trotzdem oft unglücklich.

Das stimmt. Ich persönlich habe gute Zeiten mit Drogen gehabt, habe aber auch negative Erfahrungen gemacht. Drogen sind kriminalisiert und tabuisiert, deshalb gibt es keinen Raum, um eine gesunde Rauschkultur entwickeln zu können. Meiner Meinung nach wäre dies jedoch wichtig. Als ich zum ersten Mal Drogen konsumiert habe, war das in einem sehr männlichen Umfeld mit ziemlich mühsamen Machtverhältnissen. Da funktioniert der Konsum von Drogen halt oft nicht gut.

Bist du für die Freigabe von Drogen?

Ja. Würden Drogen freigegeben, könnte man normal darüber reden und sich fragen, welche Substanz für was gut sein könnte und wie oder in welchen Räumen konsumiert werden kann, damit die Menschen gut Räusche erleben können. Räusche sind etwas Wichtiges und gehören seit jeher zur Geschichte der Menschheit. Aber leider gibt es diese Räume nicht.

Schreibst du gerade an einem neuen Text?

Nein. Schreibtechnisch befinde ich mich gerade in einer schwierigen Phase. Im Moment beschäftige ich mich mehr mit Musik. Ich will Trap-Star werden.

Rap-Star?

Nein, Trap-Star – und danach schreibe ich dann nochmals einen Roman, mit dem ich alle Erwartungen enttäuschen werde.

Warum enttäuschen?

Statt dem erwarteten wild-knackigen Buch werde ich eine langfädige Geschichte schreiben ohne viel Handlung, aber total gut geschrieben.

Das ist ein schönes Schlusswort. Liebe Jessica, ich danke dir für das Gespräch.


Bibliografie: Das Ideal des Kaputten, Jessica Jurassica, Lector Books, 126 Seiten, 26 Fr.

Veranstaltungshinweis: Am 6. Mai, 19:30 Uhr, findet im Jugendkulturraum Flon in St. Gallen die Vernissage zum Roman «Das Ideal des Kaputten» von Jessica Jurassica statt.