Kolumne Momente, in denen Frau im Boden versinken möchte

Von Marianne Siegenthaler

19.10.2020

Wie kommt es dazu, dass wir manchmal am liebsten im Boden versinken würden?
Wie kommt es dazu, dass wir manchmal am liebsten im Boden versinken würden?
Bild: Getty Images

Im Alltag lauern überall peinliche Situationen, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben und man sich nur noch wünscht, vom Erdboden verschluckt zu werden. Ein Erfahrungsbericht.

Es gibt Dinge, auf die wir alle noch so gerne verzichten können: beim Schwarzfahren ertappt werden. Einen Vortrag mit offenem Reissverschluss halten. Beim Flirten ein Stücklein Schnittlauch in den Zähnen haben. Mit falsch zugeknöpfter Jacke zum Vorstellungsgespräch erscheinen. Eigentlich ganz alltäglich und recht belanglos. Aber vielen Menschen sind solche Situationen peinlich.

In einer aktuellen Studie sind Forschende der Frage nachgegangen, was denn besonders unangenehm ist. Fast die Hälfte der Befragten gaben an, dass es ihnen ausgesprochen peinlich ist, wenn sie den Namen eines Bekannten nicht mehr wissen.

Kann ich gut nachvollziehen. Das passiert mir nämlich ständig. Ich kann mir einfach keine Namen merken. Dafür Zahlen. Autonummern. Telefonnummern. Postleitzahlen. Geburtstage. Aber das hilft wenig. Soll ich etwa einen Bekannten mit «Hallo, ZH 15507» grüssen? Geht gar nicht.

Wichtige soziale Emotion

Immerhin: Ich habe ein gutes Zahlengedächtnis. Da kann es mir nicht passieren, dass ich den Code der Bezahlkarte an der Ladenkasse nicht mehr weiss. Trotzdem funktioniert sie manchmal nicht. Und das finde ich dann oberpeinlich. Da stehe ich mit meinem voll bepackten Einkaufswagen und kann nicht bezahlen.

Und ich bin überzeugt, alle denken: Über der Frau schwebt der Pleitegeier. Die hat ihr Konto längst überzogen. Und dann hält sie auch noch die ganze Warteschlange auf, indem sie es immer wieder probiert. Also das ist mir wirklich unangenehm.

Wie kommt es dazu, dass wir manchmal am liebsten im Boden versinken würden? Das erklärt sich so: Sobald wir vor anderen oder auch vor uns selber schlecht dastehen, wird dies unweigerlich mit einem schmerzhaften, eben «peinigenden» Gefühl signalisiert: Man schämt sich sozusagen in Grund und Boden.



Das ist zwar ausgesprochen unangenehm, hat aber durchaus einen Sinn: Die Scham ist eine wichtige soziale Emotion, denn sie dient dazu, Normen einzuhalten und das Verhalten zu steuern.

Teils angeboren, teils anerzogen erhält man dank der Schamgefühle eine Vorstellung von sich selbst und seiner Rolle in der Gemeinschaft, von den geltenden Regeln und Erwartungen. Und wenn man sich daneben benimmt, bekommt man das zu spüren: Man wird ausgelacht, zurechtgewiesen, schief angeschaut oder einfach ignoriert.

Die Sache mit dem Rock

Wie intensiv Peinlichkeiten erlebt werden, ist sehr individuell und von verschiedenen Faktoren wie Erziehung, Kultur oder konkreter Situation abhängig. So gelingt es manchen Menschen, sich immer wieder mit Humor, Gelassenheit oder einer schlagfertigen Bemerkung selbst aus dem tiefsten Fettnäpfchen zu retten. Andere wiederum finden schon den Kauf von WC-Papier irgendwie peinlich und in der Öffentlichkeit würden sie niemals essen aus Angst, sie könnten sich bekleckern und so lächerlich machen.

Apropos Essen: Einer Freundin ist das bisher peinlichste Erlebnis ihres Lebens in einem Restaurant passiert, das wir zusammen besuchten. Als sie von der Toilette zurückkam, schauten ihr die meisten Gäste hinterher, was ich nicht weiter erstaunlich fand, da sie eine auffällig schöne Frau ist.

Zurück am Tisch sah ich aber den wahren Grund: Ihr Rock steckte im Bund der Strumpfhose. Wir verliessen dann recht zügig das Restaurant, und kurz darauf folgte die nächste Blamage, die diesmal mich traf. Versehentlich setzte ich die Alarmanlage meines Autos in Gang – und wusste nicht, wie ich diese wieder stoppen kann. Und ja, das Auto war direkt neben einem gut besetzten Strassencafé parkiert …

Schwamm drüber

Heute können wir beide darüber lachen. Denn Peinlichkeiten passieren jedem. Sie sind unangenehm, aber kein Weltuntergang. Also lohnt es sich auch nicht, ständig drüber nachzugrübeln und die ganze unsägliche Situation immer wieder zu durchleiden.

Besser, man hakt es ab und versucht es zu vergessen – oder eben: Man lacht darüber.

Zur Autorin: Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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In der Rubrik «Die Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren von «blue News» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion.news@blue.ch.

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