Sprachpfleger Sechs, Sex und der kleine Unterschied

Von Mark Salvisberg

5.1.2021

Mit unserer Sprache sollten wir nicht so verklemmt umgehen, findet der Sprachpfleger.
Mit unserer Sprache sollten wir nicht so verklemmt umgehen, findet der Sprachpfleger.
Bild: Getty Images

Das Wort sechs wird auf Deutsch wie Sex ausgesprochen. Warum tun wir Schweizer uns damit schwer? Fürchten wir die Fehldeutung, ja die Anstössigkeit? Der Sprachpfleger klärt auf.

Der nächste 6. beziehungsweise 26. des Monats kommt bestimmt. Viele zögern, sechste und sechsundzwanzigste in korrektem Hochdeutsch auszusprechen; das ch tönt bei ihnen weich. Es gibt unter uns Deutschschweizern zwei Gruppen. Den einen fällt gar nicht auf, wenn die Moderatorin das Zahlwort sechs samtig ausspricht. Die andere horcht auf und findet, wir sollten uns doch endlich mal locker machen und jene Zahl richtig deutsch artikulieren, mit scharfem x.

Sind wir gehemmt?

Fühlen wir Eidgenossinnen und Eidgenossen uns dem ch besonders verpflichtet und möchten es deshalb pfleglich behandeln? Oder ist etwa Verklemmtheit schuld daran, dass uns, wenn wir hochdeutsch sprechen, das ch von sechs so butterzart über die Lippen kommt? Nein, weder sprachlicher Heimatschutz noch gutschweizerische Zurückhaltung ist der Grund dafür, sondern schlicht die Tatsache, dass es in der Mundart ähnlich klingt.

Doch es gibt Gegenbeispiele: Die Ostschweizer, sie sind keine «Sex-Muffel», sie sagen: sextausend. Im Übrigen, wer hat nicht schon den Spruch seg’s wie’s well verwendet? Dort kennen wir auch keine «Sex-Scheu».

Die phonetische Differenz zwischen sechs und Sex

Die beiden Wörter werden genau genommen nicht exakt gleich ausgesprochen. Das Wort sechs beginnt mit einem stimmhaften s, beim Wort Sex dagegen sind die Konsonanten stimmlos. Zwar führt der Duden für Sex inzwischen auch eine Variante mit Stimme. Wahrscheinlich je nachdem, wie viel Inbrunst gerade im Spiel ist.

Zunge reibt an Mulde

Normalerweise vermeide ich Fremdwörter. Bei dem folgenden Kurzausflug in die Phonetik mache ich eine Ausnahme, weil’s so herrlich verrückt klingt: Frikativ! Handelt es sich dabei etwa um einen bizarren grammatischen Fall, der sich auf Frikadellen bezieht? Nein, es geht um Dellen anderer Art: Beim Aussprechen des Wortes sechs bildet die Zunge eine Engstelle mit der im Kieferknochen liegenden Zahnwurzel-Delle, der sogenannten Alveole.

Die zwischen jener kleinen Mulde und der Zunge ausströmende Luft wird verwirbelt, und der S-Laut entsteht. Findet dies mit Beteiligung der Stimme statt, ist von einem stimmhaften alveolaren Frikativ die Rede (vom Spätlateinischen frictio, das Reiben). Gewebe, das sich reibt, und Luft, die hörbar ausgestossen wird. Einfach sexy.

Zur Person: Mark Salvisberg war unter anderem als Werbetexter unterwegs. Der Absolvent der Korrektorenschmiede PBS überarbeitet heute täglich journalistische Texte bei einer Tageszeitung.


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