Abschiednehmen, Teil 1 «Wir kommen im schlimmsten Moment ins Leben einer Familie»

Von Sulamith Ehrensperger

4.9.2020

Herzensbilder hilft beim Abschied nehmen. Der Verein ermöglicht und schenkt Familien, die um ihr Kind oder einen Elternteil bangen, ein professionelles Familienfoto.
Herzensbilder hilft beim Abschied nehmen. Der Verein ermöglicht und schenkt Familien, die um ihr Kind oder einen Elternteil bangen, ein professionelles Familienfoto.
Bild: Christina Nauer

Kerstin Birkeland hat ihren Sohn verloren. Heute hilft sie dort, wo ein Kind schwer krank ist, zu früh oder still geboren wird – mit Fotos. Es sind Bilder, die vielleicht die einzige bleibende Erinnerung an ein geliebtes Kind sind.

Am Anfang von Herzensbilder steht ein Familienfoto. Eines, das nicht ist. «Nachdem unser Sohn Till mit zehn Jahren an Krebs gestorben ist, suchte ich nach einem Familienfoto», erzählt Kerstin Birkeland. «Ich hatte vor, eine Leinwand zu gestalten, von unserer Familie, wie sie immer in unseren Herzen sein wird.»

Sie habe dann realisiert, dass sie zwar Tausende Fotos hatte, aber keines, auf dem die ganze Familie ist. «In diesem Moment merkte ich, wie einem ein Bild alles bedeuten kann.»

Vier lange Jahre hatten Till und seine Familie gegen den Hirntumor gekämpft. «Bevor Till krank wurde, war schon unsere Tochter schwer krank. Wir wussten nicht, ob es gut kommt oder nicht. Aber in diesen ganzen Monaten im Spital wären sie nie auf die Idee gekommen, zu fotografieren. Malin hat überlebt und es hat ihr einen ganzen Teil ihres Lebens gefehlt. Immer wieder fragte sie nach Fotos.»

«Das kannst du nicht mehr nachholen»

Kaum war die Tochter genesen, wurde nahtlos Till krank. Von Anfang an hätten sie bewusst Momente festgehalten: «Wir haben während der Bestrahlung gefilmt, die Kinderdisco, die wir im Spital organisiert hatten und seine Freunde, die ihn besucht haben. Die Leute haben uns teilweise angeschaut, aber wir wussten, wie wichtig es für ein Kind sein kann.» Nur ein Bild hatten sie vergessen: «Das Foto, das das festgehalten hätte, was ich im Herzen habe. Wir haben es nicht, das kannst du nicht mehr nachholen.»

Kerstin Birkeland ist Präsidentin und Gründerin von Herzensbilder. Der Verein schenkt professionelle Familienfotografien. Dort, wo ein Kind oder Elternteil schwer krank ist oder wo ein Kind zu früh oder still geboren wird.
Kerstin Birkeland ist Präsidentin und Gründerin von Herzensbilder. Der Verein schenkt professionelle Familienfotografien. Dort, wo ein Kind oder Elternteil schwer krank ist oder wo ein Kind zu früh oder still geboren wird.
Bild: Raisa Durandi

An einem Samstagabend im September vor zehn Jahren starb Till zu Hause bei seiner Familie. Statt zu verbittern, dass ihr das Leben ein Kind genommen hatte, beschloss Birkeland, Familien mit schwerkranken Kindern solche Familienfotos zu ermöglichen.

Würdevolle Bilder in schwierigen Lebensmomenten

Mitten in der Nacht, kurz vor der Geburt ihrer heute achtjährigen Tochter Neele, hat sie Herzensbilder initiiert und 80 Fotografinnen und Fotografen angeschrieben. «Ihr fotografiert sonst die schönen Seiten des Lebens, ich brauche euch für die ganz schwierigen. Kann sich irgendjemand vorstellen, mir zu helfen?» 75 meldeten sich zurück. Kaum hatte sie ihre Idee von Herzensbilder auf Facebook gepostet, meldete sich die erste Mutter. Sie wusste, dass ihr Baby mit einem schweren Herzfehler zur Welt kommen wird.

Birkeland und ihre erst ein paar Tage alte Tochter Neele waren beim allerersten Einsatz im Kinderspital Zürich dabei. Sie begleitete die Fotografin bis zum Zimmer, sie hatten Decken, Schals und Käppli mit und die Bilder wurden wunderschön. «Wenn man dem Kind ein Käppli anzieht, es auf eine Decke legt und mit Unschärfe fotografiert, gelingen auch in einem Spital würdevolle Fotos.»

Die Accessoires auf dem Bild schenkt Herzensbilder den Eltern: «Wir merkten, dass das sehr wichtig ist. Wenn das Kind stirbt, ist das Deckeli, jenes für das nächst geborene Kind, oder die Eltern legen das Käppli unter ihr Kopfkissen.»

Das Kind nach der Geburt früher sofort weggenommen

Seit acht Jahren nun schenkt Herzensbilder Familien professionelle Fotos, wenn Kinder bis und mit 18 Jahren oder ein Elternteil schwer erkranken. «Meist holt uns das Pflegepersonal, wenn es kritisch wird. Wir sind öfters auf der Neonatologie bei Frühgeborenen, wo es sehr kritisch ist, bei stillgeborenen Babys, wie auch bei Kindern, die verunfallt sind oder bei krebskranken Kindern.»

Es kommt immer wieder vor, dass Kinder zur Welt kommen, die nicht lebensfähig sind. Rund dreihundert Totgeburten nach ausgetragenen Schwangerschaften gibt es pro Jahr in der Schweiz. Solche Babys werden «Sternenkinder» genannt.
Es kommt immer wieder vor, dass Kinder zur Welt kommen, die nicht lebensfähig sind. Rund dreihundert Totgeburten nach ausgetragenen Schwangerschaften gibt es pro Jahr in der Schweiz. Solche Babys werden «Sternenkinder» genannt.
Bild: Beat von Mumenthaler

Früher habe man Sternenkinder den Frauen weggenommen, weil man dachte, es sei einfacher für sie. Heute wisse man, so Birkeland, dass 90-jährige Frauen noch immer jeden Tag an ihr verstorbenes Kind denken. «Das Bild, das bleibt und zeigt, dass dieses Menschlein da war, weil alles viel zu schnell geht, ist extrem wichtig ist für die Seele.»

Jeden Tag entsteht irgendwo ein Herzensbild

Fast drei Jahre lang hat Birkeland Herzensbilder alleine gestemmt: Organisiert, Spendern Karten von Hand geschrieben, die meist weiblichen Fotografen betreut. «Das sind Hochzeitsfotografinnen, die plötzlich in ein Spital müssen, wo eine Geburt schiefgelaufen ist und ein Baby gestorben ist.»

Mit sehr viel Herzblut widmete sich Birkeland ihrem Projekt, das immer weitere Kreise zog. Die Anfragen kamen irgendwann, mitten in der Nacht, beim Einkaufen an der Kasse, beim Kochen und bald schickte sie täglich eine Herzensbild-Fotografin los. Bis sie merkte, dass sie nicht mehr schlafen konnte, dass es zu viel wurde.

Inzwischen zählt Birkeland ein Team aus 150 Fotografinnen, dazu mehrere Stylistinnen, Coiffeusen und fünf Einsatzleiterinnen. Herzensbilder kommt 365 Tage im Jahr – und hat dies inzwischen über 2000-mal gemacht. Auf Wunsch wird die Familie vor dem Shooting liebevoll zurechtgemacht. «Das tut gut mitten im Sturm, wenn einem jemand die Augenringe weggeschminkt und Papi einen neuen Haarschnitt bekommt», weiss Birkeland.

Mitten drin, in den schlimmsten Momenten

Das Fotografen-Stylisten-Team arbeitet ehrenamtlich. Und tut dies immer wieder: «Für mich sind es meine Heldinnen und Helden. Sie kommen in den schlimmsten Momenten ins Leben einer Familie und sind mitten drin. Das ist unbeschreiblich intim, es bleibt wenig Zeit und die Licht- und Platzverhältnisse sind meist nicht so, wie sich das ein Fotograf vorstellt.»

Das kurze Dasein eines Kindes würdigen: Das Herzensbilder-Team ist tagtäglich im Einsatz und macht damit auch ein gesellschaftliches Tabu sichtbar.
Das kurze Dasein eines Kindes würdigen: Das Herzensbilder-Team ist tagtäglich im Einsatz und macht damit auch ein gesellschaftliches Tabu sichtbar.
Bild: Paula Schwarz

Es seien Einsätze, die ans Herzen gehen. Manchmal würden Fotografen nach ihren Einsätzen zwei Stunden lang im Auto sitzen, bevor sie es wieder schaffen, heimzufahren oder würden beim Foto bearbeiten vom Erlebten eingeholt. «Für mich ist es nach wie vor ein Wunder, dass sie es wieder tun.»

Was ist mit ihrer eigenen Geschichte, holt sie Birkeland nicht immer wieder ein? «Wenn du dein Kind verloren hast, bist du für immer schwer verletzt. Diese Wunde wird nie mehr verheilen. Aber du kannst für die Kinder, die noch da sind, so gut wie möglich weiterleben.»

Zum Glück gibt es auch immer wieder Geschichten, die glücklich enden: Das allererste Herzensbilder-Baby etwa, der Junge mit dem schweren Herzfehler, ist eines der «Heldenkinder», das den schwierigen Start ins Leben geschafft hat.

«Es ist wunderbar, dass wir an Tabus rütteln»

Der Verein Herzensbilder wirkt seit acht Jahren dank der Spenden und vieler ehrenamtlicher Einsätze in der deutschsprachigen Schweiz. «Mein Wunsch wäre es, dass Herzensbilder finanziell abgesichert ist und wir unsere Kraft für die Familien einsetzen können und nicht, um das notwendige Geld zusammenzusuchen. Aber dazu bräuchten wir einen Charity-Partner.» Eine Suche, die sich nicht ganz einfach gestalte, da man in einem Tabubereich wirke.

Doch gelingt es Birkeland und ihrem Team tagtäglich: Sie machen dieses Thema, über das nicht gesprochen wird, mit ihren Bildern sichtbar. «Es ist wunderbar, dass wir an Tabus rütteln, und dass Herzensbilder immer weitere Kreise zieht.»

«Bluewin» hat mit einer Hochzeitsfotografin gesprochen, die unermüdlich für Herzensbilder ehrenamtlich unterwegs ist. Dieser zweite Teil erscheint am Donnerstag, 10. September.

Weitere Informationen finden Sie auf herzensbilder.ch. Wer spenden will, kann dies über folgendes Konto tun: Verein Herzensbilder, Postfach, 8157 Dielsdorf, IBAN CH42 0900 0000 8529 5327 3, Postfinance Bern

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