Klimaneutrale Unternehmen «Der Moment des Vorteils ist schon bald passé»

Von Anita Raaflaub

21.3.2022

«Wer nicht vorneweg geht, wird überrannt»: Olmar Albers, Geschäftsleiter von öbu, dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften, spricht im Interview über Klimaneutralität in der Schweizer Wirtschaft.
«Wer nicht vorneweg geht, wird überrannt»: Olmar Albers, Geschäftsleiter von öbu, dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften, spricht im Interview über Klimaneutralität in der Schweizer Wirtschaft.
Bild: öbu

Schweizer Unternehmen wollen Netto Null erreichen und setzen sich dafür ambitionierte Klimaziele. Was heisst das genau, was bringt es und können wir diesen Versprechen glauben? Ein Experte gibt Antworten.

Von Anita Raaflaub

21.3.2022

Immer mehr Schweizer Unternehmen setzen sich Klimaziele für die nächsten Jahre: 2021 arbeiteten über 4000 Schweizer Firmen an ihren Energie- und Klimazielen, 51 Unternehmen legten ihre Klimabilanz im Rahmen des Carbon Disclosure Project offen und 64 Firmen haben sich für die Teilnahme an der Science Based Target-Initiative angemeldet. Die Schweizer Wirtschaft bewegt sich.

Die Namen dieser Bewegung sind Netto Null, Net-Zero oder Klimaneutralität. Reihenweise setzen sich Unternehmen diese Ziele und verkünden damit, dass sie ab sofort nachhaltiger sein wollen.

Aber was heisst das genau, wenn eine Firma Netto Null oder klimaneutral wird? Was bringt es und wie glaubwürdig sind solche Ziele?

Wir haben die wichtigsten zehn Fragen mit Olmar Albers besprochen, dem Geschäftsführer von öbu, dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften.

1. Olmar Albers, was genau bedeuten die Begriffe klimaneutral und Netto Null?

Es bedeutet, dass man unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr verursacht. Dafür reduzieren Unternehmen ihre Emissionen so weit wie möglich. Was nicht reduzierbar ist und übrigbleibt, muss wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Man nennt das auch «kompensieren». Hierfür machen Firmen beispielsweise Zahlungen an Klimaschutzprojekte, die etwa Wälder wieder aufforsten.

2. Gibt es einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen?

Im Gebrauch schon. Gemäss der Definition des Intergovernmental Panel on Climate Change fokussiert ein Netto-Null-Ziel auf die durch uns verursachten Treibhausgasemissionen, während der Begriff klimaneutral auch andere Umweltfaktoren berücksichtigt.

Klimaneutral versus Netto-Null
Bild: Unsplash/Peter Wormstetter

Wird zum Beispiel für eine Wasserkraftanlage ein Tal geflutet, berechnet ein klimaneutrales Ziel auch Schäden an der Natur mit ein, etwa die Verringerung der CO2-Entnahme aus der Atmosphäre aufgrund der zerstörten Grün- und Waldflächen. Netto-Null hingegen berücksichtigt nur jenes CO2, das durch den Bau und Betrieb der Anlage ausgestossen wird.

Die Begriffe sind aber nicht exklusiv und auch nicht trennscharf. Es gibt denn auch eine Diskussion zur Reichweite der Messungen, im Fachjargon auch «Scope» genannt. Es geht darum, inwiefern bei einem Klimaziel indirekte Emissionen, die zum Beispiel in der Lieferkette entstehen, berücksichtigt sind. Das wären dann «Scope 3»-Emissionen.

3. Wieso ist es Netto Null und nicht einfach null?

Weil null in absehbarer Zeit nicht möglich ist. Es würde bedeuten, dass wir alles reduzieren und nichts kompensieren. Das geht nur schon deshalb nicht, weil wir von heute auf morgen unser Wohn-, Mobilitäts- und Ernährungsverhalten sowie die wirtschaftlichen Produktionsprozesse komplett umstellen müssten. In der Übergangsphase ist das Ziel also Netto Null, um die Klimasituation zu stabilisieren.

4. Welche Chancen ergeben sich für Schweizer Unternehmen, wenn sie sich einem Klimaziel verpflichten?

Viele! Ökonomisch gesprochen kann sich ein Unternehmen mit einem ambitionierten Klimaziel im Moment noch vorteilhaft am Markt positionieren. Die Kundschaft ist auf das Thema sensibilisiert. Der Moment des Vorteils ist aber schon bald passé. Die Parole lautet also: Besser heute als morgen. Wer vorneweg geht, wird nicht überrannt.

Die echten Vorteile sind aber mittel- bis langfristig und entsprechend nachhaltig. Klimaneutral zu werden, heisst nämlich vor allem eines: effizient werden. Und zwar in allen Bereichen. Eine Analyse zur Energieeffizienz führt automatisch zu einer Analyse der Prozesse in der Produktion und anderen Bereichen, zum Beispiel wenn es um Kreislaufwirtschaft geht. Am Ende spart man Kosten für Ressourcen wie Energie oder Rohstoffe und profitiert von effizienteren Prozessen auf der ganzen Strecke.

Scope 3-Emissionen
Bild: Unsplash/Marcin Jozwiak

Angenommen ein Schweizer Unternehmen verkauft Zahnbürsten und bezieht das Material für die Borsten aus einem asiatischen Land. In diesem Fall sind die Scope 3-Emissionen jene, die der Borsten-Produzent verursacht in der Produktion und im Transport der Ware. Wenn die Schweizer Firma also ein Klimaziel inklusive der Scope 3-Emissionen verfolgt, sind die Emissionen dieses Produzenten auch in der Klimabilanz berücksichtigt.

Zu guter Letzt liegt nachhaltiges Wirtschaften langfristig im Eigeninteresse der Wirtschaft. Der Klimawandel bedroht den Raum, in dem Profit generiert wird, stark. Es liegt also im Interesse der Unternehmen, dieses Umfeld zu erhalten. Dieser Meinung sind im Übrigen auch die grossen Schweizer Wirtschaftsverbände.

5. Was nützt es Schweizer Unternehmen, sich ein verbindliches Klimaziel zu setzen?

Das lässt sich mit einem Grundprinzip des Managements beantworten: Wer Erfolg haben will, muss sich klare Ziele setzen. Das ist Wirtschaftslehre 101.

6. Welche Risiken tragen Unternehmen dabei?

Für viele Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger ist die Thematik trotz ihrer Präsenz einfach noch neu. Das verunsichert und macht die ersten Schritte schwierig. Zudem ist die Öffentlichkeit schon sehr sensibilisiert auf das Thema. Viele fürchten sich, des Greenwashings bezichtigt zu werden. Klimaziele müssen deshalb konsistent sein und überlegt kommuniziert werden. Auch besteht natürlich das Risiko, die gesteckten Ziele nicht zu erreichen.

7. Welche Herausforderungen stellen sich Unternehmen bei einer Umstellung?

Erstens müssen technische Prozesse überprüft und umgestellt werden, allenfalls sogar das gesamte Businessmodell. Das ist viel Arbeit, lohnt sich aber doppelt, wie oben erklärt. Zweitens muss man die Wertschöpfungskette prüfen, seitens Zuliefernden und Kundschaft. Dieser Prozess und messbare Ziele sind zwar wichtig für den Erfolg, fordern aber viel Transparenz, womit sich viele Unternehmen noch schwertun – auch in der Schweiz. Drittens braucht es in der Organisation einen Kulturwandel. Milton Friedmans Kredo «The Business of Business is Doing Business», also Wirtschaften um des Wirtschaften Willens, funktioniert nicht mehr.

8. Wie funktioniert das genau, wenn sich ein Unternehmen ein Klimaziel setzt?

In einer Analyse werden die Hotspots in der Organisation definiert, wo die meisten Emissionen entstehen, dort setzt man an. Der Umwelt-Atlas vom Bundesamt für Umwelt gibt hier hilfreiche Tipps. Das Angebot an Dienstleistende, die Unternehmen bei solchen Prozessen unterstützen, ist breit. Seit Kurzem bieten wir auch bei öbu Kurse für kleine Unternehmen an.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman erklärte den Sinn und Zweck der Wirtschaft im Wirtschaften selbst. Das war 1970 – die Zeiten haben sich geändert.
Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman erklärte den Sinn und Zweck der Wirtschaft im Wirtschaften selbst. Das war 1970 – die Zeiten haben sich geändert.
Bild: Keystone

9. Wie glaubwürdig sind Klimaversprechen von Schweizer Unternehmen?

Auch hier gilt eine Grundregel zur Glaubwürdigkeit: Je transparenter, desto überzeugender. Der Corporate Climate Responsibility Monitor, auch wenn dieser im Moment noch umstritten ist, untersucht die Glaubwürdigkeit solcher Versprechen anhand dessen, wie viele und welche Zahlen Organisationen preisgeben. 

10. Wie beurteilen Sie das Engagement und die Chancen der Schweizer Wirtschaft, in nützlicher Frist klimaneutral zu werden?

Gerade bin ich optimistisch, weil sich in den letzten zwei bis drei Jahren so viel bewegt hat. Das Thema ist in Wirtschaftskreisen ganz oben auf der Agenda und es hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden – in sehr kurzer Zeit. Und auch die Politik zieht mit, wenn auch zögerlich. Seit diesem Jahr besteht eine Berichterstattungspflicht für mittelgrosse und grosse Unternehmen zu «Corporate Social Responsibility». Diese umfasst auch Umweltaspekte wie etwa den CO2-Ausstoss. Jetzt geht es also darum, den Worten Taten folgen zu lassen: Walk the talk!


Über den Nachhaltigkeitsblog
Anita Raaflaub ist Head of Communications Strategy & Corporate Responsibility bei Swisscom.
Anita Raaflaub ist Head of Communications Strategy & Corporate Responsibility bei Swisscom.

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