Fernweh Beiruts alte Schwester ist hässlich und gerade deshalb wunderbar

dpa

25.12.2020 - 18:00

Tripoli ist arm, hat einen schlechten Ruf und steht im Schatten der schillernden Hauptstadt Beirut. Weshalb sich eine Reise in die Stadt nach Corona trotzdem lohnt: ein Reisebericht. 

Es gibt scheinbar wenige Gründe, nach Tripoli zu fahren: Wer über die Autobahn von Süden kommt, sieht zunächst eher kärgliche Wohnblöcke. Während des Syrienkrieges beschossen sich im Osten der Stadt Anhänger und Gegner Assads. Und tanzt die libanesische Lebenslust nicht sowieso in Beirut?

Ein Grund, die zweitgrösste Stadt im Libanon trotzdem zu sehen, ist Mira Minkara – also neben der Altstadt mit ihren lebhaften Souks, den Jahrhunderten an Geschichte, dem Hafenviertel und nicht zuletzt der versponnenen Utopie eines weltbekannten Architekten.

Mira (41)  ist Tripolis wohl einzige weibliche Fremdenführerin. Die kosmopolitische und offenherzige Libanesin führt Freunde, Bekannte sowie Touristinnen und Touristen durch ihre Heimatstadt. «Es ist meine Leidenschaft, ich liebe es, aber es ist nicht leicht in einem Land wie unserem», erzählt Mira bei einem Treffen an der Mansuri-Moschee im historischen Zentrum.

Dort fällt sie auf: bunter Schal, strahlend gelbe Jacke, Sonnenbrille, offenes Haar. Der Pförtner sperrt auf. Wir dürfen in den Innenhof, der im 13. Jahrhundert von den Mamluken erbaut wurde.

Die unterschätzte Stadt

«Tripoli ist eine der ältesten mittelalterlichen Städte und reich an Geschichte», sagt Mira. Die Stadt werde unterschätzt und habe noch so viel Potenzial. «Und das Essen ist günstiger und viel besser als in Beirut», so die Reiseführerin. Im Vergleich zu Tripoli ist die Hauptstadt jung.

An der Küste, wo heute die Schwesterstadt Al-Mina liegt, errichteten einst die Phönizier einen ersten Handelsstützpunkt. Kaufleute aus Sidon, Tyros und dem heutigen Tartus in Syrien siedelten sich an, daraus leitet sich der Name ab: Tripolis, «drei Städte».

Während der Fatimiden-Dynastie unter Banu Ammar erblühte Tripoli zu einem Zentrum der Wissenschaft. Es gab angesehene Richter und Gelehrte, eine grosse Bibliothek. Die Herstellung von Seide und feinen Seifen brachte Wohlstand. «Ein goldenes Zeitalter», sagt Mira. Bis die Kreuzfahrer die Stadt stürmten, plünderten und niederbrannten.

Tripolis alte Badehäuser

Wir brechen auf zu einem Spaziergang durch die Altstadt. Mira führt in den verfallenen Hammam Al-Nuri, ein Badehaus, das die Osmanen errichteten, nachdem sie Tripoli von den Mamluken erobert hatten. Ein Vorraum zum Entkleiden, ein Massagezimmer, unter der grossen Kuppel die Überreste des Brunnens, dessen Plätschern einmal für Entspannung sorgte, der Boden aus Marmor, um die Wärme zu speichern.

Fast alle Hammams stellten 1975 den Betrieb ein, als der Bürgerkrieg ausbrach. «Ich bin nicht überzeugt von der Restaurierung», sagt Mira. Ganz gut erhalten ist der grösste Hammam in Tripoli, Hammam Al-Dschadid, ein Baudenkmal mit Fundamenten aus dem 13. Jahrhundert.

Wir besuchen auch das einzige funktionierende Badehaus im Libanon aus osmanischer Zeit, Hammam Al-Abd. Handtücher liegen bereit, die Sitzecke ist mit Decken ausgelegt, man kann Wasserpfeife rauchen. Zeit, ein wenig über Tripoli zu plaudern.

Besuch im Hammam: «Auch Attentate wurden hier geplant»

Das Hammam sei ein Ort des sozialen Austauschs gewesen, erklärt Mira. «Männer kamen um zu erfahren, was es Neues gibt, ob der Gold- oder Silberpreis gestiegen oder gefallen war, welche Händler in der Stadt waren. Auch Attentate wurden hier geplant.»

Zeit für ein kleines Frühstück. Wir kaufen Kaakeh, warmes Brot auf die Hand, und laufen damit durch die verwinkelten Gassen des Marktviertels. Mira grüsst einen der ältesten Schneider Tripolis, wie sie sagt, wechselt ein paar freundliche Worte. Viele Textilien im Souk kommen aber mittlerweile aus der Türkei und China. In der dämmrigen Werkstatt eines Kupferschmieds wiederum ist dagegen noch echtes Traditionshandwerk zu besichtigen.

Berühmt ist Tripoli ausserdem für seine Seife, ebenso wie Aleppo in Syrien. «Wir benutzen nur Olivenöl, keine Chemie und keine tierischen Fette», erklärt Mira. Manche Geschäfte sind in alten Karawansereien untergebracht, die einst Mensch und Tier Obdach boten.

Die Bürde des schlechten Rufes

Wenn man sich von der Altstadt entfernt, verwischen die Eindrücke eines als exotisch wahrgenommenen alten Orients schnell. Tripoli ist arm, hat Zigtausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Der Krieg im Nachbarland wurde zeitweilig auch hier in der Stadt ausgetragen. Die Alawiten im Viertel Dschabal Muhsin unterstützten Assad, die Sunniten in Bab al-Tabanah dessen Gegner. Nachbarn beschossen sich gegenseitig von ihren Balkonen. Das ist nun schon ein paar Jahre her.

«Viele Leute sagen, Tripoli ist sehr konservativ», sagt Mira. Das sei doch eigentlich lustig. «Schau dir mal die Grösse Beiruts an, da gibt es so viele konservative Gegenden, aber nur zwei hippe Viertel, Hamra und Dschemmaiseh – und da gehen alle Touristen hin.»

Doch auch in Tripoli passiert etwas. In Al-Mina am Meer hat sich ein Ausgehviertel etabliert mit Restaurants und Lokalen, in denen sich die jungen, liberalen Bewohner der Stadt treffen. Am Wasser kann man abends über eine lange Promenade spazieren, während das letzte Licht des Tages das Libanon-Gebirge anstrahlt.

Verfallene Moderne auf dem alten Messegelände

Und dann gibt es da noch eine Sehenswürdigkeit ganz eigener Art, die sich im Niemandsland zwischen Tripoli und Al-Mina ausbreitet: die Raschid Karami International Fair, das alte Messegelände aus einer Zeit, als der Libanon boomte, in den 1960er Jahren.

Oscar Niemeyer (1907-2012), einer der namhaftesten Architekten der Moderne, entwarf mehr als ein Dutzend futuristischer Gebäude, die heute wie rätselhafte Artefakte einer ausserirdischen Zivilisation in der Gegend herumstehen oder zumindest genauso befremdlich wirken. Denn bevor das Areal fertiggestellt werden konnte, brach der Bürgerkrieg aus. Die Arbeiten wurden nie beendet.

Weithin sichtbar spannt sich ein gewaltiger Bogen über eine Fussgängerbrücke, die hinaufführt zu einem Freilufttheater, dessen weisse Plastiksitze auf Gäste warten. Eine Art Betonmarkise von enormen Ausmassen spendet Schatten. Und ein ausladender Kuppelbau steckt in der Wiese wie eine halb versunkene Kugel.

Der Traum Oscar Niemeyers erinnert an eine Zeit, in der Tripoli in eine glorreiche Zukunft schaute. Sie ist lange vorbei und wird wohl auch noch länger auf sich warten lassen.

Zurück zur Startseite

dpa