Kolumne Wo die Leute noch pünktlicher sind als in der Schweiz

Von Caroline Fink, Ulsan, Südkorea

30.4.2022

Zurück aus Südkorea, fühlt sich Europa plötzlich chaotisch und ineffizient an. Worüber die Kolumnistin ganz froh ist. Sie mag die nicht ganz perfekte Ordnung und lässt fünfe auch mal gerade sein.

Von Caroline Fink, Ulsan, Südkorea

30.4.2022

Ich trinke im Hotelzimmer rasch einen Kaffee. Es ist 9.50 Uhr und draussen zwitschern die Vögel in der Morgensonne, während meine innere Uhr auf halb zwei Uhr nachts steht.

Ich bin zwei Tage zuvor in Südkorea angekommen, um in der Jury eines internationalen Bergfilmfestivals Einsitz zu nehmen. Gern würde ich mir drum mehr Zeit fürs Aufwachen nehmen, doch um punkt 10 Uhr beginnt im Hotelgarten eine Sitzung.

Zähne putzen, Schuhe anziehen, Computer einpacken, Festivalbadge umhängen, ein hastiger Blick auf die Uhr: Es ist 9:59 Uhr.

«Perfekt», denke ich mir, denn der Hotelgarten liegt keine 30 Sekunden vom Zimmer entfernt.

Zur Autorin: Caroline Fink
Bild: Gaudenz Danuser

Caroline Fink ist Fotografin, Autorin und Filmemacherin. Selbst Bergsteigerin mit einem Flair für Reisen abseits üblicher Pfade, greift sie in ihren Arbeiten Themen auf, die ihr während Streifzügen in den Alpen, den Bergen der Welt und auf Reisen begegnen. Denn von einem ist sie überzeugt: Nur was einen selbst bewegt, hat die Kraft, andere zu inspirieren.

Doch falsch gedacht: In der Schweiz wäre ich pünktlich, nicht aber in Südkorea. Während ich mich halbwegs wach und gut gelaunt zu den anderen Jury-Mitgliedern an den Gartentisch setze, werde ich von einer Assistentin bereits seit mehreren Minuten im ganzen Hotel «gesucht».

Alles umgehend erledigt

Ich lerne: In Südkorea ist man pünktlicher als in der Schweiz. Zudem wird alles umgehend erledigt.

Egal, was es ist, und unabhängig davon, wie dringlich es scheint. Ausserdem wird alles mit viel Liebe zum Detail geplant – und genauso umgesetzt. Zugegeben, diese kulturelle Eigenheit bringt Vorteile, besonders wenn 52 Millionen Menschen in einem Land leben, das doppelt so gross wie die Schweiz ist.

Alles funktioniert und so manch durchdachtes Detail vereinfacht das Leben. Etwa winzige Stöpsel, mit denen man die Trinköffnung des Deckels des Take-Away-Kaffees verschliesst. Heizdecken im Hotelbett, die sich auf der linken und rechten Betthälfte auf unterschiedliche Temperaturen erwärmen lassen. Oder Wanderwege, auf denen der Abstieg mittels Holzstegen erleichtert wird.

Doch so einfach der Reisealltag in Korea damit ist, fehlte mir während meines Aufenthalts doch etwas. Etwas, das ich erst benennen konnte, als ich wieder auf europäischem Boden stand: das Chaos.

Oder anders gesagt: die nicht perfekte Ordnung.

Was seltsam klingen mag, gelten wir Schweizer*innen – und noch mehr die Deutschen – doch als ordentlich und effizient. Was ich im Übrigen zu schätzen weiss. Insbesondere seitdem ich mal ein halbes Jahr in Südamerika gearbeitet habe, wo mich Ineffizienz und Schlendrian auf die Palme brachten.

In Europa wird manches dem Zufall überlassen

Aber nun, nach acht Tagen Südkorea, schätzte ich mit einem Mal das Durcheinander am Flughafen Frankfurt: Die Menschenmenge drängte sich vor der Sicherheitskontrolle, Angestellte riefen einander Anweisungen zu, Leute rannten durch Gänge und Gates, um ihre Anschlussflüge zu erwischen.

Und auch ich schaffte meinen Flug nach Zürich nur, weil dieser Verspätung hatte. In Zürich warteten wir dann frierend im Flughafenbus auf dem Rollfeld und beim Gepäckband hievte ich meine Tasche über die Wägeli anderer Leute, die direkt am Laufband im Weg standen.

Und so mühsam das sein mag: Mit einem Mal fühlte ich mich wieder wie ein Fisch im Wasser. Weil wir hier in Europa manches dem Zufall überlassen. Weil wir das Chaos gebändigt haben, ohne es zu beherrschen, und weil wir nur dann effizient arbeiten, wenn es – aus unserer Sicht – darauf ankommt.

Offenbar liegen wir Europäer*innen – geografisch wie kulturell – irgendwo zwischen Südamerika und Ostasien. Was sich perfekt anfühlt. Weil wir in der Schweiz, fünfe auch mal gerade sein lassen.

Und ich guten Gewissens um 9 Uhr 59 Minuten 59 Sekunden zur Sitzung erscheinen darf.


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