Kriegsverlauf und -ziele Friedensgespräche? Darum ist der ETH-Experte skeptisch

Von Philipp Dahm

16.3.2022

Warum läuft Wladimir Putins Kampagne in der Ukraine so schleppend – und was sind die Folgen? Welchen Zahlen kann man trauen – und wieviel Hoffnung machen die Verhandlungen? Ein ETH-Experte gibt Antwort.

Von Philipp Dahm

16.3.2022

Die Lage in der Ukraine bleibt unübersichtlich: blue News hat Dr. Alexander Bollfrass vom Center for Security Studies an der ETH Zürich gebeten, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.

Zur Person
Bild: Zvg

Dr. Alexander Bollfrass hat in Berkeley in Kalifornien Politikwissenschaften studiert, um seine Doktor-Arbeit an der Princeton University zu bestehen. Er war am Belfer Center sowie dem Davis Center der Harvard University und in Washington beim Think-Tank Stimson Center und bei der Arms Control Association tätig, bevor er ans Center for Security Studies der ETH Zürich ging.

Die russische Armee kommt nicht so richtig voran: Woran liegt das?

Mir kommen da auf Anhieb drei Gründe in den Sinn. Erstens: Der russische Präsident scheint wirklich geglaubt zu haben, dass die ukrainische Regierung schnell fallen wird und die Menschen in der Ukraine dankbar für sein Eingreifen sein werden. Der schnelle Regimewechsel ist offensichtlich nicht zustande gekommen. Zweitens: Die russischen Streitkräfte sind in einem sehr viel schlechteren Zustand als erwartet.

Warum ist das so?

Es gibt Probleme bei der Instandhaltung und wahrscheinlich ist es auch ein Problem von Korruption.

Und der dritte Grund?

Die unteren Ränge sind offenbar nicht einmal darüber informiert worden, dass es eine Invasion geben wird. Das hat es ihnen auch schwer gemacht, sich vorzubereiten. Russland hat deshalb zu Beginn des Kriegs einfach alles, was es hatte, über die Grenze geschickt und gehofft, schnelle Effekte zu erzielen. Das hat nicht funktioniert, und nun sehen wir, wie sich die Situation verschlechtert und die Taktik der russischen Armee brutaler wird.

Wenn die russische Armee ihr bestes Material am Anfang gebracht hat, dürfte sich das Problem der mangelnden Instandhaltung bald noch viel stärker auswirken, oder?

Ja, ich glaube, das ist richtig.

Die ukrainische Armee hat erst mehr aus dem Hinterhalt agiert, nun aber auch einige Gegenoffensiven gestartet. Wie effektiv ist das?

Das ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen. Viele der Informationen, die wir vom Schlachtfeld bekommen, kommen eigentlich vom ukrainischen Informationssystem: Wir bekommen also alle möglichen Meldungen über ihre Erfolge und sehen Bilder von russischen Verlusten. Aber wenn man sich die Karte im Ganzen ansieht, scheint es, als würden die russische Seite auf stetige, mühsame Art an Boden gewinnen. Auf lokaler Ebene kann es in bestimmten Orten mal ein vor und zurück geben, aber auf der übergeordneten Ebene liegt der Schwerpunkt auf dem russischen Vormarsch.

Es kursieren verschiedene Zahlen über Verluste: Wo sind diese wirklich einzuordnen?

Ich habe hier leider keine gesonderten Informationen. Der US- und der britische Geheimdienst haben Zahlen veröffentlicht

Sind diese nicht auch mit Vorsicht zu geniessen?

Sicher, man sollte Geheimdienst-Informationen immer mit Vorsicht geniessen und interpretieren – gerade wenn sie öffentlich gemacht werden. Aber die Beweggründe bei der ukrainischen oder russischen Seite sind vollkommen offensichtlich, wenn sie besonders optimistische oder pessimistische Meldungen über eigene oder fremde Verluste machen. Die Zahlen des britischen und amerikanischen Geheimdienstes mögen in gewisser Weise einen Hauch pro-ukrainisch sein, sind aber wahrscheinlich näher an dem dran, was aus dem Feld tatsächlich geschieht.

Erfolgsmeldungen mit Vorsicht geniessen: Separatisten inspizieren am 16. März in der Donezk-Region einen angeblich aufgegebenen Panzer der ukrainischen Armee.
Erfolgsmeldungen mit Vorsicht geniessen: Separatisten inspizieren am 16. März in der Donezk-Region einen angeblich aufgegebenen Panzer der ukrainischen Armee.
EPA

Muss Russland nicht bloss Truppen hinterherschicken, wenn es hakt?

Russland hat immer noch deutlich mehr Soldaten und Ausrüstung. Es könnte theoretisch einfach aufstocken. Aber es muss das strategisch tun: Zum Stau im Norden Richtung Kiew einfach Truppen zu addieren, wird das Problem auch nicht lösen. Sie müssen ihre Streitkräfte an die richtigen Orte bringen, und die Ukrainer sind im Moment sehr gut darin, ihnen das zu verwehren. Am Ende sind auch Russlands Ressourcen nicht unbegrenzt: Sie haben Verpflichtungen in anderen Grenzregionen, in Syrien und anderswo. Einige ihrer besseren Einheiten sind dort gebunden.

Wie optimistisch machen sie die aktuellen Friedensverhandlungen?

Im Moment nicht allzu optimistisch: Beide Seiten wollen, dass es so aussieht, als würden sie sich in den diplomatischen Verhandlungen redlich bemühen. Aber am Ende hat Putin sich maximale Kriegsziele gesetzt. Die Art von sensiblem Friedensabkommen, die es vor dem Krieg gegeben hat, sind durch seine Eskalation und den Grad der Gewalt sehr viel weniger wahrscheinlich. Diese hat vielmehr bei ihm selbst einen Hunger entfacht, mehr herauszuholen, als er hineingesteckt hat.

Und die Ukrainer?

Ich glaube, das gilt auch für die ukrainische Seite: Nachdem sie so viele Verluste hatten und so hart um ihre Souveränität kämpfen, ist es schwer, sich vorzustellen, dass sie den russischen Forderungen nachgeben.