Der emeritierte Professor für Staatsrecht René Rhinow glaubt, die Schweiz müsse sich beim Neutralitätsbegriff auf den völkerrechtlichen Kern besinnen. «Unsere Vorstellung, dass die Schweiz dauernd und immerwährend neutral bleiben soll, ist sozusagen verjährt.»
16.7.2022 - 01:53
SDA
Das Umfeld der Schweiz habe sich in den letzten 200 Jahren grundlegend geändert, sagte der frühere Baselbieter FDP-Ständerat und emeritierte Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit den Tamedia-Titeln.
Ein Verzicht auf die Dauerhaftigkeit gestattete eine grundsätzliche Neutralität, mit der Option darauf falls nötig zu verzichten. Der völkerrechtliche Kern bestehe darin, dass sich die Schweiz nicht an einem Krieg zwischen zwei Staaten beteilige – unter dem Vorbehalt, dass die Sicherheit und die existenziellen Interessen der Schweiz nicht gefährdet werden.
«Kommen um Kooperation mit Nato und EU nicht umhin»
Die Schweiz müsse akzeptieren, dass sie abhängig und auf Zusammenarbeit angewiesen sei. «Wir werden um eine stärkere Kooperation mit der Nato und der EU in Sicherheitsfragen nicht umhinkommen», so Rhinow. Werde Europa angegriffen, könne sich die Schweiz nicht mehr neutral verhalten, wenn sie sich effektiv schützen wolle. Das Land brauche eine aktive Aussen- und Sicherheitspolitik.
Eine «gewöhnliche» Neutralität – im Gegensatz zu einer mit Beiwörtern angereicherten, wie die «kooperative» Neutralität Ignazio Cassis' oder die «aktive» Neutralität von Micheline Calmy-Rey – biete den nötigen Spielraum dazu, sagte Rhinow. «Priorität muss unsere Aussenpolitik haben, und da muss es möglich sein, vom Neutralitätsrecht abzuweichen.»
«Grober Unfug» Neutralität jetzt festzuschreiben
Es sei richtig und wichtig, dass jetzt über den Neutralitätsbegriff debattiert werde. «Das Schweizervolk hat sich seit gut dreissig Jahren kaum mehr mit der Neutralität befasst», so Rhinow. Sie jetzt in der Verfassung festzuschreiben, wie das die SVP mit einer geplanten Initiative tun will, hält er jedoch für «groben Unfug».
«Derzeit wissen wir nicht, wie sich die geopolitische Lage weiterentwickelt. Gerade jetzt wäre es deshalb schlimm, wenn wir unsere Handlungsfreiheit durch einen einengenden Neutralitätsbegriff einschränken würden», sagte Rhinow.
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