Bundespräsident in Kiew Polit-Analyst: «Mit den Bildern wirbt Cassis für seinen Kurs»

Von Stefan Michel

20.10.2022

Bundespräsident Cassis veredelt seinen Kiew-Besucht mit einem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj.
Bundespräsident Cassis veredelt seinen Kiew-Besucht mit einem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj.
KEYSTONE / AP Photo / Efrem Lukatsky

Die Reaktionen auf Bundespräsident Cassis' Besuch in der Ukraine gehen weit auseinander: von mutig bis verantwortungslos. Polit-Analyst Mark Balsiger ordnet ein.

Von Stefan Michel

20.10.2022

Der Besuch von Bundespräsident Ignazio Cassis in Kiew hat in Deutschland stärkere Reaktionen hervorgerufen als in der Schweiz. Dies, weil der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am gleichen Tag seinen Besuch in der unter Beschuss stehenden Hauptstadt der Ukraine aus Sicherheitsgründen abgesagt hat.

Verschiedene deutsche Journalisten kommentieren in ihren privaten Twitter-Accounts den Besuch von Cassis und fragen sich, wieso die Schweizer Behörden die Situation so anders einschätzen als ihre deutschen Kollegen.

Reaktionen aus der Schweiz: Von «mutig» bis «verantwortungslos»

Auf Twitter meldet sich auch Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte-BL) zu Wort, die den Besuch als Nachbetreuung der Lugano-Konferenz begrüsst.

«Der Bund» zitiert den Präsidenten der Aussenpolitischen Kommission, Franz Grüter (SVP/LU), der den Besuch grundsätzlich gut finde. Er stelle aber rhetorisch die Frage, was Cassis damit erreichen wolle.

Die offizielle Begründung für den Besuch ist, dass sich der Bundespräsident ein realistisches Bild von der Situation verschaffen wolle. Einen Programmpunkt der Schweizer Delegation ist in einem Tweet von «Blick»-Redaktor Peter Hossli zu sehen: Er zeigt sie bei der Besichtigung von Notunterkünften, die ein Schweizer Unternehmer in der Ukraine für Menschen bauen lässt, die ihr Haus verloren haben.

Während SVP-Nationalrat Grüter den Besuch gutheisst, hält ihn sein Parteikollege Werner Gartenmann, Sekretär der SVP des Kantons Zürich, für falsch. Der Bundespräsident habe «im Ausland – in Kiew – nichts verloren».

Noch härter kritisiert der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner Cassis' Auftritt in Kiew auf den News-Portalen von CH-Media: «Das ist absolut verantwortungslos. Die Schweiz ist ein neutraler Staat. Es kann nicht angehen, dass er [Ignazio Cassis] sich auf eine Seite stellt, wie er das schon einmal gemacht hat.»

An gleicher Stelle lobt die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder ihren Parteikollegen Cassis als «mutig» und sieht einen Ausdruck der Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung. Sibel Arslan (Grüne/BS) vermutet sogar, dass die Anwesenheit des Schweizer Bundespräsidenten der Bevölkerung einen gewissen Schutz bieten könnte.

Polit-Analyst: Ein starkes Zeichen – wenn alles gut geht

Polit-Analyst Mark Balsiger gibt den Befürworter*innen der bundesrätlichen Reise recht, dass er ein starkes Zeichen der Solidarität setze. «Die Symbolik ist nicht zu unterschätzen, wenn der Bundespräsident in eine Stadt reist, die in den letzten Tagen mehrfach beschossen worden ist.» Zusätzliche Bedeutung habe der Besuch erhalten, weil sein deutscher Amtskollege die angekündigte Reise nicht angetreten hat.

Balsiger vermutet, dass Bundespräsident Cassis auch die Diskussion über die Neutralität wieder «ankurbeln» wolle. «Die Neu-Justierung der Schweizer Aussenpolitik wird nicht überall mitgetragen. Mit den Bildern aus Kiew wirbt Ignazio Cassis um Support für seinen Kurs.»

Dabei stellt sich die Frage, ob der Bundespräsident nun nach Moskau reisen müsste, um der Neutralität Genüge zu tun. Polit-Analyst Balsiger winkt ab: «Sein Treffen mit Lawrow hat in einem Fehltritt geendet.» Die Schweiz habe in diesem Konflikt auch kein Mandat, wie sie das zwischen den USA und Kuba sowie den USA und dem Iran innehat. Ein Treffen mit Präsident Putin sei kein realistisches Szenario.

Hauptnutzniesser des Überraschungsbesuchs in Kiew ist gemäss Mark Balsiger Ignazio Cassis selber, der damit einen aussenpolitischen Erfolg von starker Symbolik verbuchen könne – wenn nicht noch etwas passiert. Dies umso mehr, nachdem der Tessiner am Nachmittag auch noch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj getroffen hat.

Der Schweizer Delegation gehören auch Nationalrätin Marianne Binder (Mitte/AG) und Nationalrat Mathias Zopfi (Grüne/GL) sowie eine Vertreterin der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) an. Sollten sie tatsächlich in Gefahr geraten oder sogar verletzt oder jemand getötet werden, steht der Besuch in einem anderen Licht. «Dann liegt das Schlaglicht zuerst auf den Sicherheitsvorkehrungen», erklärt Balsiger.

Ein solcher Zwischenfall würde den vorsichtigeren deutschen Behörden recht geben, die das Risiko als zu hoch eingeschätzt haben. Nationalrat Glarner ist wegen der Sicherheitslage nicht beunruhigt, wie er den CH-Medien-Titeln sagte: «Es ist mir offen gestanden egal, wenn er freiwillig dort ist. Das muss er selber wissen.»