Roboter übernehmen600'000 Stellen weg – wie Amazon leise die Arbeitswelt umkrempelt
Martin Abgottspon
22.10.2025
Ob in stationären Amazon-Shops künftig auch nur Roboter arbeiten?
Amazon
Amazon plant, mehr als eine halbe Million Stellen durch Roboter zu ersetzen. Dabei werden Wörter wie «KI» oder «Automatisierung» bewusst vermieden. Doch hinter der Fassade steckt eine tiefgreifende Umwälzung des Arbeitsmarkts.
Kein Unternehmen hat die amerikanische Arbeitswelt in den vergangenen 20 Jahren so tief geprägt wie Amazon. Als zweitgrösster Arbeitgeber der USA beschäftigte der Konzern hunderttausende Lagerarbeiter und Fahrer, baute eine globale Logistikinfrastruktur auf und machte digitale Überwachung zur industriellen Routine. Nun steht Amazon vor der nächsten, vielleicht radikalsten Transformation seiner Geschichte. Laut internen Dokumenten sollen in den kommenden Jahren über 600'000 Stellen durch Roboter ersetzt oder gar nicht erst neu geschaffen werden.
Hinter dem nüchternen Begriff «Prozessoptimierung» verbirgt sich ein ambitioniertes Ziel – die Automatisierung von bis zu 75 Prozent aller Betriebsabläufe bis 2033. Das strategische Ziel ist klar: Wachstum ohne personellen Zuwachs.
Effizienz vor Beschäftigung
Das interne Automatisierungsteam verfolgt eine Kernaufgabe: Neueinstellungen sollen, wo immer möglich, vermieden werden. Nach internen Planungen könnten allein bis 2027 rund 160'000 potenzielle Neueinstellungen entfallen. Dass der Umsatz dennoch weiter steigen soll, liegt an einer Kombination aus Robotik, künstlicher Intelligenz und datengetriebenem Management. Technologien, die in den letzten Jahren zur stillen Grundlage von Amazons Erfolg geworden sind.
Ökonomen sehen in dieser Entwicklung einen Wendepunkt. «Wenn Amazon herausfindet, wie sich Automatisierung profitabel in der Breite umsetzen lässt, wird sich das Modell auf die gesamte Logistikbranche ausdehnen», warnt der MIT-Ökonom und Nobelpreisträger Daron Acemoglu. Amazon könne dann «vom Jobmotor zum Netto-Jobvernichter» werden.
Das Experiment von Shreveport
Ein konkreter Blick in die Zukunft findet sich im neuen Logistikzentrum in Shreveport im US-Bundesstaat Louisiana. Dort arbeiten mittlerweile rund tausend Roboter, die innerhalb eines Jahres ein Viertel der menschlichen Belegschaft überflüssig gemacht haben. Bis Ende 2026 soll sich diese Zahl halbieren – bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität.
Das Modell gilt als Blaupause. 40 weitere Standorte sollen bis 2027 nach diesem Vorbild umgebaut werden. Ältere Lager wie das in Stone Mountain werden bereits umgerüstet, mit ähnlichen Effekten. Die Zahl der Mitarbeitenden sinkt, während die Verarbeitungsmenge steigt. Betroffen sind dabei vor allem jene Beschäftigtengruppen, die ohnehin am unteren Ende der Lohnskala stehen. Da Amazons Lagerarbeiter überdurchschnittlich häufig Afroamerikaner sind, droht die Automatisierung bestehende soziale Ungleichheiten weiter zu verschärfen.
Das Framing der Zukunft
Amazon weiss um die gesellschaftliche Brisanz dieser Pläne und wählt seine Worte mit Bedacht. Interne Kommunikationsstrategien empfehlen, Begriffe wie «Automatisierung» oder «Künstliche Intelligenz» zu vermeiden. Stattdessen soll von «fortschrittlicher Technologie» oder «Cobots» gesprochen werden. Kollaborativen Robotern, die angeblich Seite an Seite mit Menschen arbeiten. Der Euphemismus verschleiert, dass in vielen Fällen kein Mensch mehr an ihrer Seite stehen wird.
Zugleich bemüht sich der Konzern, ein positives Image als «guter Unternehmensbürger» zu pflegen – durch lokale Sponsoring-Initiativen und Ausbildungsprogramme. Nach aussen verweist Amazon auf neue Berufsbilder, etwa auf die Robotik-Techniker in Shreveport, die rund 24,45 Dollar pro Stunde verdienen. Mehr als das einfache Lagerpersonal mit 19,50 Dollar. Seit 2019 haben laut Unternehmensangaben rund 5'000 Beschäftigte eine Mechatronik-Ausbildung durchlaufen.
Die Frage, wer morgen arbeitet
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Offiziell widerspricht Amazon der Darstellung, man plane massive Personalreduktionen. Sprecherin Kelly Nantel betont, die internen Unterlagen gäben nur einen Teil der Einstellungsstrategie wieder. Für die Feiertagssaison wolle man 250'000 zusätzliche Arbeitskräfte einstellen. Doch über die langfristige Beschäftigungsperspektive schweigt das Unternehmen.
Was bleibt, ist ein Spannungsfeld: zwischen kurzfristigem Wachstum und langfristiger Verdrängung menschlicher Arbeit, zwischen technologischem Fortschritt und sozialem Rückschritt. Amazons Robotik-Offensive markiert dabei weniger einen Bruch als eine stille Fortsetzung des Bekannten – die schleichende Entkopplung von Wirtschaft und menschlicher Arbeit.