Pro

Pascal Wengi

Während «Cyberpunk 2077» von Kritikern gerade einiges einstecken muss, ist das Game für mich sogar ein Anwärter für das Spiel des Jahres. Klingt verrückt? Ist es überhaupt nicht.

Lieber Martin

Was macht ein gutes Game aus? Was genau bewerten wir Game-Journalisten eigentlich? Sind wir Technik-Kritiker, welche jeden Pixel oder beispielsweise die Funktionsweise der Engine einzeln bewerten? Oder geben wir unsere Bewertung aus Konsumentensicht ab und versuchen unsere Freude an einem Spiel in einer Wertung wiederzugeben? Kurz gesagt: Ich bewerte ein Spiel im Fazit darin, wie sehr es mir gefallen hat und sehe es als Kauf- oder Spielempfehlung.

Und unter dieser Prämisse ist «Cyberpunk 2077» für mich nicht nur ein 10/10-Game, sondern auch klarer Anwärter für das Spiel des Jahres. «Wieso? Bist du wahnsinnig?», wirst du mich zu Recht fragen, aber lass mich das erläutern.

Kein anderes Game der letzten Jahre, wenn nicht Dekade, hat diesen Einfluss und massiven Hype um sich aufgebaut wie das Werk von CD Projekt Red. Es war fast, als würde die Wiederkehr des digitalen Messias erwartet. Beim aktuellen Zustand der Gaming-Industrie mit dem Drang zu Mikrotransaktionen und Profitgeilheit auf Kosten der Spieler ist dies nicht mal ein so realitätsfremder Vergleich. Doch genau solche Erwartungen sind auch der grösste Feind des Endprodukts, denn sie schüren Erwartungen, die ab einem gewissen Punkt nicht mehr erfüllt werden können. 

Rund um «Cyberpunk» wurde im Vorfeld so viel gemutmasst durch die unzähligen «10 Dinge, die man im Voraus über Cyberpunk wissen muss»-Videos und Artikel. Jeder Content-Creator wollte mehr wissen als sein Vorgänger und so wurde übertrieben, gedichtet und ins Blaue geraten – alles für den schnellen Klick. Kurz zusammengefasst hat sich die Gaming-Welt mit ihrem blinden Hype und ihrer Klick-Gier selber ein Monster erschaffen in Form eines «Wunsch-Games», das «Cyberpunk» hätte sein sollen. Und so sind es nun genau wieder dieselben Individuen, die das Traum-Game «Cyberpunk» an ihrer eigenen Messlatte vergleichen und es nun zu Unrecht verteufeln.

Was bleibt, ist ein Spiel, das bis auf wenige Ausnahmen alles richtig macht. Optisch ist «Cyberpunk 2077» indiskutabel das, was wir unter Next-Gen verstehen. Was die Welt an sich angeht, so liefert CD Projekt Red eine der besten, schönsten und glaubwürdigsten offenen Welten ab, die es seit Gamer-Denken gibt. Und nicht nur das. Man hat mit der lebendigen Welt eine neue Art Charakter erschaffen, denn Night City ist nicht bloss Schauplatz, sondern Gegenspielerin, Verbündete und Erzählerin in einem. Es wirkt fast, als wäre die Metropole aus Beton und Neon ein atmender Organismus und würde mehr Charaktertiefe aufweisen als so mancher Protagonist in anderen Rollenspielen.

Gepaart mit dem überragenden Missionsdesign und der spannenden Story ergibt sich eine Erfahrung, wie sie nicht viele andere Spiele zu bieten vermögen. «Cyberpunk» saugt dich ein und packt dich – genau wie Night City. Wir beide sind der beste Beweis dafür, denn in den zwei Wochen seit Release haben wir beide etwas mehr als 80 Stunden Spielzeit hinter uns. Das entspricht zwei vollen Arbeitswochen. Freiwillig. Ohne Testzwang. Was war das letzte Spiel, das dies bei dir geschafft hat?

Und ja, ich rede hier ganz klar nur von der PC-Version. Die Last-Gen Version für PS4 und Xbox One ist ein Skandal für sich und hat in der Diskussion um das Spiel an sich keinen Platz für mich. Sie hätte ganz einfach gar nie released werden sollen und ist ein Betrug am Kunden. Wir werden in nicht allzu ferner Zukunft immer wieder auf «Cyberpunk 2077» zurückblicken als das Spiel, das den Standard in Videospielen neu gesetzt hat. Zwar müssen bis dahin ein paar Bugs beseitigt werden aber da ist nichts, was die Entwickler nicht mittels Hotfixes und Updates bereinigen können. Für mich ist «Cyberpunk 2077» das 10/10-Spiel und ein Meisterwerk, das die Industrie verändern wird. Und genau das hab ich erwartet.

Contra

Martin Abgottspon

Ich habe inzwischen wirklich die ganze Stadt in «Cyberpunk 2077» bis in ihre hintersten Schlupflöcher erkundet. Das war atemberaubend. Die Maximalnote hat das Spiel trotzdem nicht verdient. Es wäre sogar blanker Hohn.

Lieber Pascal

Zugegeben, Night City hat auch mich in seinen Sog aufgenommen. Obwohl die schrille, bunte und gewaltsame Stadt der Zukunft eigentlich kein Ort ist, an dem man gern sein möchte, erfüllt sie im Spiel ihren Zweck perfekt.

So bin ich dieses Jahr über die Festtage nicht gemütlich unter dem Weihnachtsbaum gesessen und habe Leckereien in mich reingestopft, sondern bin mit V durch die Stadt und die Badlands geschlendert, wo mich teils wirklich harte Kost erwartet hat. Während ich zu Beginn noch überwältigt war von der ganzen Kulisse und auch der Story und dem Missionsdesign, merkte ich erst mit der Zeit, warum «Cyberpunk 2077» in einigen Punkten einfach nicht mit anderen aktuellen Top-Titeln mithalten kann.

Da wäre beispielsweise die KI der Gegner, die sich zum Teil wirklich sehr dumm, wenn nicht schon lächerlich verhalten. Ich meine, in welchem Spiel kann ich ein ganzes Polizeikommando abschütteln, indem ich mich einfach in den nächstbesten Shop begebe? Und auch im Kampf geben die Kontrahenten nicht gerade die beste Figur ab. Die meiste Zeit lauerten die Widersacher einfach kauernd hinter irgendwelchen Kisten, während ich längst mit meinem Katana auf sie zugestürmt war. Dieses Verhalten lässt sich leider auch nicht mit dem höheren Schwierigkeitsgrad ändern und leider ebenso wenig mit irgendwelchen Patches oder Bugfixes. 

Einen weiteren grossen Minuspunkt muss ich auch für das Balancing vergeben. Das Rollenspiel suggeriert einem mit den tiefgehenden Charakter-Attributen, das man seinen Helden auf völlig unterschiedliche Art und Weise entwickeln kann. Egal ob kopfloser Haudrauf oder smarter Hacker: Jeder soll mit seinen Mitteln zum Ziel kommen. In Tat und Wahrheit werden die ganzen Spezialisierungen aber immer nebensächlicher, weil ich selbst als ungeübter Waffennutzer die Feinde irgendwann alle über den Haufen schiessen kann. Das Rollenspiel leidet darunter extrem.

Und kommen wir noch zum wesentlichen Aspekt, weshalb das Spiel die Maximalnote einfach nicht verdient hat und den du elegant umgehen wolltest: die Technik. Das Spiel ist einfach unfertig. Auf älteren Konsolen ist es schlicht nicht spielbar und auch auf dem PC oder der Playstation 5 hatte ich mit mehreren Abstürzen zu kämpfen. Schwebende Zigaretten gehören zum Stadtleben genauso wie eine gewisse Lähmung des Charakters, nachdem man ein Fahrzeug verlassen hat. 

Einverstanden, das sind zum Teil kleine Dinge, die sich einfach beheben lassen. Der Release für die Playstation 4 und die Xbox One hätte trotzdem nie passieren dürfen, weil das Spiel auf diesen Modellen nie so aussehen wird, wie es einem in den unzähligen Trailern gezeigt wird. Das ist Irreführung und es wäre gegenüber allen Besitzern älterer Konsolen der blanke Hohn, «Cyberpunk 2077» nun die Maximalnote zu geben.

Trotzdem würde ich das Spiel jedem weiterempfehlen, der über einen leistungsstarken PC verfügt. Denn allein das Abtauchen in Night City und die Diskussionen mit Johnny Silverhand aka Keanu Reeves bleiben unvergesslich. Wer allerdings glaubt, «Cyberpunk 2077» wäre die Steigerungsform von «The Witcher 3», den muss ich leider enttäuschen.