InnovationsweltreiseRio de Janeiros Smart-City-Experiment als Lehrstück nutzen
Swisscom
24.11.2018
Smart Cities sollen die Antwort für die vielfältigen Herausforderungen von Städten geben. In Rio de Janeiro blieb von einem Smart-City-Grossprojekt mit einer grossen Vision Bescheidenes übrig. Der US-Geograf und Stadtforscher Christopher Gaffney ist Experte auf diesem Gebiet. Er zieht sein Fazit und erklärt, was andere Städte von Rio lernen können.
Das Recht, irgendwo sicher anzukommen und den Ort heil wieder zu verlassen, gibt es in Rio de Janeiro nicht. Genauso wenig das Recht auf öffentliche Verkehrsmittel, die pünktlich und kosteneffizient sind. Ja noch nicht einmal sauberes Wasser steht jedem zu.
«Diese Sicherheitspunkte erfüllt die Stadt nur für die Wohlhabenden. Alles, was für sie relevant ist, wird privatisiert: Schulen, Gesundheit, Transportmittel und Sicherheit. Die Stadt lebt das komplette Gegenteil von dem, was man eigentlich unter smart versteht. Der Lebensraum wird nicht mit allen geteilt und so ist es unmöglich, etwas miteinander zu gestalten», erklärt der amerikanische Stadtforscher Christopher Gaffney (48).
Je mehr privatisiert wird, desto weniger sind die Reichen Teil des öffentlichen Raums. Ein Albtraum für die Stadtplanung. Was übrigbleibt, sind die Armen gegen die Polizei. Für die Mittellosen werde die Stadt zu einem Ort, wo die Gefahr zu sterben, zum ständigen Begleiter werde. «Mit dieser Grundlage lässt sich die Struktur einer Stadt nicht bereinigen.»
Um die Sicherheit zu verbessern, auch hinsichtlich der damaligen Megaevents, die Fussballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016, verkündete die Stadtregierung 2011, dass man ein Big Data Center bauen werde.
Den Menschen wurde erzählt, es werde die Stadt smarter machen: Es verbessere den Verkehrsfluss, helfe Rettungsaktionen zu koordinieren und bringe ein Frühwarnsystem für Überschwemmungen in die Favelas. 2010 gab es viele Überflutungen und Tausende von Menschen starben, weil man sie nicht hatte warnen können. Mit diesem Center sei man imstande, Daten zu sammeln und diese so zu nutzen, dass alles verbessert werden könne.
Für die grossen IT-Player und Partner sollte es ein Vorzeigebeispiel werden, wie man mit Datenanalysen die Stadt besser lenken kann. Die Aufmerksamkeit in Fachkreisen zu den Smart City Plänen von Rio de Janeiro war zu diesem Zeitpunkt riesig, die Rede war von der ersten Smart City in Lateinamerika.
Der Weg zum Erfolg führt über die Bewohner
Es war das erste Mal, dass Christopher Gaffney auf Smart City aufmerksam wurde. 2004 hatte er seine Stelle als Gastprofessor an der Universität in Rio de Janeiro angetreten. Er befasste sich in seinen Forschungen mit den Themen Kultur, Sport und Organisation. Er selbst ist ein sportlicher Typ, der seine Leidenschaft für Fussball mit den Brasilianern teilt. Eine Zeit lang hat er sogar halbprofessionell gespielt. In Taiwan, wo er ebenfalls gearbeitet hat, gewann er mit seinem Team die nationale Meisterschaft. Eine Verletzung beendete dann aber die Sportkarriere.
«Die Propaganda, die um das Big Data Center betrieben wurde, war gigantisch. Jede Gelegenheit wurde von der Regierung genutzt, um hervorzuheben, wie sehr es die Stadt ins Positive transformieren werde und wie innovativ das Vorhaben sei.» Was auch stimmt, sofern man das Projekt nach der ursprünglichen Idee umgesetzt hätte.
Verfolge eine Stadt das Ziel, den Lebensraum aufzuwerten, müsse sie es zusammen mit den Einwohnern anpacken, erklärt Christopher Gaffney. «Die Menschen müssen involviert werden, damit die Zukunft gemeinsam geformt werden kann.» Die wichtigsten Bestandteile zum Erfolg sind gemäss seinen Forschungen folgende: Egalität, alle Bewohner werden gleich behandelt; eine transparente Stadtregierung, alles, was geschieht, muss nachvollziehbar sein; und die Stadt soll funktional und nachhaltig agieren. «Am smartesten wird immer diejenige sein, die am besten für ihre Bewohner funktioniert, und nicht die, die bezüglich Technologie am fortschrittlichsten ist.» Leider habe man in Rio diese Punkte ausser Acht gelassen. Die Technologie wurde nicht als Hilfsmittel eingesetzt, sie stand im Fokus.
Eine erfolgreiche Smart City entwickelt sich in mehreren Dimensionen wie Regulation, Infrastruktur, Technologie und Verhalten. Der einseitige Technologiefokus führt nicht zum Ziel. Das mag rückblickend wenig überraschen, doch haben einige Städte weltweit dafür ihr Lehrgeld bezahlen müssen. Smart City als interdisziplinärer Ansatz entwickelt sich weiter und Beispiele wie Rio liefern wichtige Erkenntnisse für andere Städte.
Die Forschungen von Christopher Gaffney, der sieben Jahre in Südamerika gelebt hat, sind immer der Frage nachgegangen, welche Folgen die Megasportevents auf die Stadt und deren Bewohner haben. «Megaevents kreieren ihre eigenen Notsituationen, die eine Anwendung von Hightech-Lösungen rechtfertigen. Insofern es Smart City schafft, einen solchen Event effizienter zu gestalten, kann es in die Planung der Veranstaltung eingesetzt werden. Die Regierung hat mit dem Big Data Center ein Nutzen von 100 Prozent versprochen, am Höhepunkt der Nutzung waren es 20 Prozent und man muss zufrieden sein, dass es immerhin noch das war und nicht nichts. Die Frage ist aber, was mit den anderen 80 Prozent, die nicht geliefert wurden passiert ist?»
Die Herausforderung Megaevent
Passiert sind die Fussballweltmeisterschaft und die Olympischen Sommerspiele. «Mittlerweile ist das Big Data Center nur noch ein Ort, an dem die Rettungsdienste koordiniert werden. Der Nutzen ist auf 5 Prozent geschrumpft.» Selbst das Frühwarnsystem für die Favelas, Sirenen hätten aufgeheult und die Menschen hätten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können, wurde eingestellt, weil zu viel Geld für die sportlichen Megaevents ausgegeben wurde. «Für Sicherheit, Hotels und VIPs der FIFA und des IOC. Irgendwann war kein Geld mehr da, um das Unternehmen zu bezahlen, das das Frühwarnsystem betrieben hat. Also wurde es beendet», sagt Gaffney. Etwas das er besonders bedauert, «es war das einzige, was wirklich sinnvoll war.»
Ein weiterer Schwachpunkt betrifft die Transparenz des Big Data Centers. Als Bürger habe man keinen Zugang zu den Daten. Man wisse weder was das für Daten seien, die gesammelt werden, noch was mit ihnen geschehe. «Theoretisch wäre so ein Center ein offenes, transparentes, demokratisches System. So wie in Dublin. Das dortige Smart City Programm scheint für jeden Einwohner offen zugänglich zu sein und die Integration zwischen Daten, Stadtplanung und Input der Bevölkerung ist auf einem höheren Level als bei der Mehrheit der Systeme. In Rio aber hat die Regierung keine Verpflichtung gegenüber dem Bürger, es ist eine Blackbox.» Christopher Gaffney hätte gerne herausgefunden, wofür die Daten genutzt werden. «Anfragen wurden jedoch nicht beantwortet. Man kann eine Tour im Gebäude machen, doch das einzige, was man dort zu hören bekommt, ist die PR-Version.»
Gaffney kommt bezüglich Big Data Center zu diesem Schluss: «Es kommt auf die Lebensgrundlage an, die den Menschen bereits davor geboten wurde. Ist diese gut, ist ein solches Center sehr wohl von Nutzen. In der Schweiz zum Beispiel, könnte dies gut funktionieren.» Der Wissenschaftler, der in Vermont geboren und in Texas aufgewachsen ist, hat auch zweieinhalb Jahre in der Schweiz gelebt und an der Universität Zürich geforscht und gelehrt.
Auch eine Innovation muss richtig gesteuert werden
Das Big Data Center in Rio sei heute vor allem etwas für Technikfreaks, so Gaffney. Was in Rio nicht umgesetzt werden konnte, funktioniert in Dublin umso besser. Richtig eingesetzt und den Bedürfnissen entsprechend bedient, hilft es, eine Stadt für die zukünftigen Herausforderungen zu transformieren: den ökologischen Fussabdruck zu verkleinern, Mobilität besser zu managen und Städte bedürfnisgerechter zu planen – dank Daten oder Umweltparameter. Hätte die Stadtregierung von Rio de Janeiro seine Einwohner so in den Fokus gerückt wie es Christopher Gaffney während seiner Forschungen getan hat, wäre Smart City auch in der südamerikanischen Metropole ein Erfolg geworden.
Rio arbeite aktuell nicht daran, smarter zu werden. Der Wissenschaftler liebt die Metropole dennoch. Die Landschaft, das gute Wetter, aber auch wegen seiner Freundin, eine brasilianische Journalistin, und wegen der Tatsache, dass man beim Verlassen des Hauses nie wisse, was geschehen werde. Etwas, das ihm in Zürich nie passiert sei. «Um in Rio leben zu können, muss man die Stadt verstehen. Am Ende liebt man sie, weil man sie so gut versteht. Selbst wenn es sich so anfühlt, als würde man für den Rest seines Lebens mit einem 15-jährigen Jungen zusammenleben.»
Aktuell forscht und lehrt Gaffney an der Universität von New York. Wo er sich auch mit neuen Themen wie Event Management befasst. Hurrikane, Tsunamis oder Erdbeben sind Katastrophen, die nicht geplant waren. Es geht darum, wie man solche Ereignisse organisiert, nachdem sie geschehen sind. Wo bleibt bei all diesen Mammutaufgaben Zeit für ihn? «Ich bin beschäftigter, als ich eigentlich sein möchte. Aber ich denke, es ist eine wichtige Arbeit. Ich bin ein wenig ungewöhnlich für einen Akademiker und bin wohl auch etwas politischer als andere», sagt Gaffney und schmunzelt. In Zürich ist er diesmal nur für einen Stopover. Er freut sich, dass er in der Stadt sieben verschiedene Orte hat, wo er bei Freunden übernachten kann. Danach geht es weiter nach Norwegen, wo er an einer Konferenz über Sicherheit in Rio berichten wird. Doch zunächst, aufgrund der sommerlichen Temperaturen Mitte Oktober, geht’s noch einmal für einen Sprung in die kühle Limmat.
Schweizer Städte setzen auf Smart City
Mehrere Schweizer Städte setzen bereits auf Smart City und haben erste Pilotversuche am Laufen. Die Massnahmen, die aktuell umgesetzt werden, werden oft noch isoliert und noch nicht als Teil eines grossen Smart-City-Konzepts umgesetzt. Dabei sollen nicht alle Städte die gleichen Erfahrungen machen, sondern sich gegenseitig unterstützen und organisieren. Swisscom ist hierfür eines der Gründungsmitglieder des Smart City Hub Switzerland, der einen solchen Austausch fördert. Smart City heisst Themenfelder kombinieren. Vernetzung und der Umgang mit Daten sind dabei zwei entscheidende Kernkompetenzen von Swisscom. Als Infrastrukturanbieterin und ICT-Expertin unterstützt sie Städte und Regionen in der Digitalisierung. Als eines der nachhaltigsten Unternehmen Europas setzt sie unter anderem auf Smart City, um selbst ihre sechs Corporate-Responsibility-Ziele bis 2020 zu erreichen. Was Städte dabei von Bienen lernen können, findet sich hier.
Hinweis: Dieser Artikel erschien als Teil der Serie «Innovationsweltreise» in einer Kooperation von Swisscom mit der NZZ-Gruppe. «Bluewin» ist ein Produkt der Swisscom (Schweiz) AG. Die Bluewin-Redaktion berichtet regelmässig über neue Produkte und Dienstleistungen von Swisscom.
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