Analyse Wird das Netz zu einem dunklen Wald?

Von Dirk Jacquemien

28.5.2019

Ist das die Zukunft des Internets?
Ist das die Zukunft des Internets?
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Immer mehr Internet-Nutzer sollen sich in einen dunklen Wald zurückziehen. Was hat es damit auf sich?

Was auf öffentlichen Facebook und Twitter-Profilen passiert wird, wird viel beachtet und viel diskutiert. Scheinbar das Schicksal der Welt wird hier entschieden, denkt man etwa an die US-Präsidentschaftswahl 2016 zurück. Doch daneben gibt es nach Auffassung von Yancey Strickler, einem Mitbegründer der Crowdfundingplattform Kickstarter, noch einen weiteren Teil von Social Media, den «Dark Forest».

Geht man nachts durch einen Wald, ist es dunkel und ruhig. Nichts bewegt sich. Man könnte also denken, im Wald gäbe es kein Leben. Doch das ist natürlich ein Trugschluss. «Der dunkle Wald ist voller Leben. Er ist leise, weil nachts die Raubtiere herauskommen. Um zu überleben, bleiben die andere Tiere stumm.» Laut Strickler ziehen sich immer Menschen in einen solchen dunklen Wald zurück, mit möglicherweise fatalen Folgen.

Kein neues Konzept

«Dunkler Wald» meint hier vielerlei Formen von privaten oder semi-privaten Kommunikation. Das können Facebook- oder WhatsApp-Gruppen, Podcasts oder Newsletter sein. Sprich alles, was für Aussenstehende nicht einfach einsehbar ist und wo sich vor allem Gleichgesinnte und/oder Bekannte tummeln.

Stricklers These des dunklen Wald erinnert an den Begriff «Dark Social», den der Journalist Alexis Madrigal bereits 2012 prägte, um eben solche private Kommunikation im Netz zu beschreiben, die sich nicht leicht erfassen und messen lässt. Bereits damals machte sie nach Madrigals Berechnung einen grösseren Anteil an Social Media-Kommunikation als das öffentlich Einsehbare aus.

Rückzug überlässt anderen das Feld

Der Rückzug in den Wald ist natürlich verständlich. Denn im öffentlichen Internet gibt es Trolle, aufdringliche Werbung und Unternehmen, die jeden einzelnen Schritt verfolgen und monetarisieren wollen — also die Raubtiere. Im dunklen Wald muss man dagegen nicht befürchten, wegen eines vermeintlichen Fehltritts öffentlich blossgestellt zu werden.

Doch der Rückzug hat natürlich auch Nachteile, die für Strickler inzwischen überwiegen. Zum einen verstärkt sich dadurch die berüchtigte Filterblase — man wird in den eigenen Auffassungen immer nur bestärkt, teilweise sogar radikalisiert. Zum anderen sorgt der Rückzug aus dem öffentlich wahrnehmbaren Diskurs auch dafür, dass dieser von den lauten Übriggebliebenen dominiert wird — die dann gesellschaftliche und politische Änderungen nach ihren Vorlieben durchführen können.

Zu stark verallgemeinert

Dennoch erscheint es ein bisschen so, als würde Strickler von den eigenen Umständen und anhand der eigenen Generation verallgemeinern. Denn junge Menschen heutzutage verstecken sich keineswegs en masse in dunklen Wälder, so wie es Strickler scheinbar in seinem Bekanntenkreis beobachtet hat. Sie nutzen die sozialen Medien stattdessen offensiv und öffentlich— und zwar nicht nur für Selfies vor den Spiegel sondern auch für das Organisieren der nächsten Klimaschutzdemonstration.

Und die «Dark Forests» werden wohl auch nicht mehr lange so idyllisch bleiben. Denn diesen Trend haben auch die Tech-Firmen längst erkannt — und versuchen davon zu profitieren. Facebook hat jüngst angekündigt, in seiner App mehr den Fokus auf die privaten Gruppen zu legen. Der beste Schutz vor Raubtieren ist nicht immer das Verstecken.

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