Costa-Gavras am Locarno Film Festival «Wir leben in einer gefährlichen Zeit»

Von Marlène von Arx, Los Angeles

29.7.2022

Costa-Gavras, der Vater des politischen Thrillers, wird für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Der griechisch-französische Filmemacher über die Ehre aus dem Tessin, seine ersten Filme – und warum das Kino seinen Zauber verloren hat.

Von Marlène von Arx, Los Angeles

29.7.2022

Herzliche Gratulation zum Pardo alla carriera Ascona-Locarno. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie hörten, Sie würden in Locarno für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet?

Ich war sehr überrascht. Positiv überrascht, denn Locarno ist eines der wichtigen Festivals zu denen nicht nur die grossen wie Cannes, Venedig und Berlin zählen. Locarno ist auch ein sehr spezielles Festival, was die Auswahl der Filme betrifft.

Wieso waren Sie überrascht? Sie können ja auf eine lange Karriere zurückblicken.

Überrascht, weil ich vorher noch nie eingeladen war. Ich war noch nie am Film Festival von Locarno. Aber ich weiss, dass es eine schöne Gegend ist und ich freue mich, hinzureisen und den Preis entgegenzunehmen.

In der Retrospektive sind Ihre ersten beiden Filme vertreten, die heute selten irgendwo zu sehen sind: «Sleeping Car Murders» («Compartiment tueurs», 1965) und «Shock Troops» («Un homme de trop», 1967). Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an diese beiden Filme denken?

Bei «Sleeping Car Murders» kommt mir in den Sinn, dass ich das Drehbuch eigentlich nur als Übung für die Schule geschrieben hatte. Ich hatte weder die Rechte am Roman, noch kannte ich den Autor. Und daraus wurde ein ziemlich guter Film. Dass namhafte Schauspieler*innen wie Yves Montand, Simone Signoret und Michel Piccoli bei einem Erstlingswerk eines jungen Regisseurs mitwirkten, war natürlich sehr wichtig für meine Karriere.

Und wie erinnern Sie sich an «Shock Troops»?

Dank des ersten Films hatte ich beim zweiten keine Geldsorgen. Der renommierte Produzent Harry Saltzman fragte mich, welchen Film ich denn als nächstes machen wolle. Mir schwebte eine Geschichte über die Kultur-Revolution in China vor, aber er meinte, ein Film mit hauptsächlich chinesischen Schauspielern gehe nicht und ich soll doch dieses Buch über die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg lesen. Das tat ich und daraus wurde «Shock Troops». Heute sagen sie, es sei ein guter Film, aber damals fiel er sowohl bei den Kritikern wie beim Publikum durch. Das war ein grosser Schock – und jetzt wird er in Locarno gewürdigt ...

Was bedeuten Ihnen Auszeichnungen?

Anerkennung ist sicher etwas Schönes, aber letztlich schaue ich immer nach vorne. Die Vergangenheit ist die Vergangenheit. An den Filmen kann ich nachher nichts mehr ändern. Die einen gefallen, andere nicht. Deshalb habe ich von Anfang an immer nach vorne geschaut, versucht, aus Fehlern zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen.

Sie sind bekannt dafür, dass Ihre Filme politisch inspiriert sind ...

… das stimmt so nicht. Meine Filme sind vom Geschichten-Erzählen inspiriert. Letztlich sind alle Filme politisch. Tausende oder gar Millionen von Menschen sehen einen Film und reagieren darauf – das ist politisch. Politisch sind nicht nur die Anführer. Jede tägliche Handlung ist politisch. Natürlich habe ich meine politischen Philosophien, die ich nicht verleugnen kann. Als «Z» in die Kinos kam, warnten mich die Produzenten, nicht über Politik zu sprechen. Heute wird es nahezu erwartet.

Wie sehen Sie denn die momentane Lage in der Welt?

Als ein sehr gefährliches Chaos. Und niemand weiss, wohin das alles führt und was noch passieren wird. Als die Sowjetunion auseinander fiel, dachte meine Generation, dass jetzt alles besser wird. Aber so war es nicht. Jedes Jahr wurde es schlimmer. Vielleicht brauchen wir grosse West-, Ost- und Süd-Mächte für ein Gleichgewicht. Es fehlt derzeit an den grossen Visionen für die Gesellschaft.

Sehen Sie darin einen Stoff für einen Film?

Es ist zurzeit sehr schwierig, einem Thema zu folgen, denn es zerrinnt einem wie Sand in den Händen. Jeden Tag passiert noch etwas Schlimmeres. Angefangen bei der Ukraine: Niemand hätte gedacht, dass wir in Europa wieder Krieg führen, täglich viele Menschen töten und Städte zerstören. Dann sehe ich, wie die Rechtsextremisten in Frankreich immer stärker werden. Ich muss optimistisch bleiben, aber wir leben wirklich in einer gefährlichen Zeit.

Sie haben ja den Zweiten Weltkrieg selber als Kind erlebt. Wie war das für Sie?

Mein Vater schickte uns aufs Land, weil die Menschen in Athen nicht genug zu essen hatten und verhungerten. Ich hatte es gut, war weit vom Geschehen entfernt und lebte wie ein Bauernjunge. Ich habe damals viel darüber gelernt, wie man überlebt: Wie viel Holz man für den Winter braucht, wie viel Öl für die Lampen und wie viel Getreide fürs Brot. Wir waren arm, aber frei. Was im Krieg alles Schlimmes passierte, erfuhr ich erst später.

Und schliesslich sind Sie nach Frankreich ausgewandert und gingen in die Filmschule …

Ja und ich wurde schliesslich Regie-Assistent. Der Job gefiel mir und ich dachte, damit meinen Platz gefunden zu haben. Ein Ausländer würde in Frankreich doch nie selber Filme machen können! Alle Regisseure waren Franzosen. Aber siehe da … Frankreich ist eben ein spezielles Film-Land. Noch heute.

Sie haben unter anderem «Missing» mit Sissy Spacek und Jack Lemmon, und das Kriegsverbrecher-Gerichtsdrama «Music Box» mit Jessica Lange und Armin Müller-Stahl für Hollywood gedreht. Aber die amerikanische Filmmetropole konnte Sie nicht an sich binden. Weshalb nicht?

Stimmt, ich hätte nach meinem ersten Film schon einen Vertrag mit einem Hollywood-Studio unterzeichnen können, aber ich lehnte ab. Und nach «Z» hagelte es noch mehr Angebote. Aber ich blieb in Frankreich, denn zwei Sachen sind mir wichtig: Ich muss über das Drehbuch bestimmen können und ich muss die Gesellschaft kennen. Die amerikanische kannte ich nicht wirklich.

«Missing» passte, weil sie meine Drehbuch-Adaption akzeptierten und auch, weil sie mich den Film in Paris schneiden liessen. Das war damals sehr ungewöhnlich, aber sie genossen wohl die Stadt und das gute Essen, als sie für den ersten Schnitt nach Paris kommen mussten.

Sie arbeiten derzeit an einer Serie. Sehen Sie keine Zukunft fürs Kino?

Weil es immer mehr Content online gibt, verliert das Kino seinen Zauber immer mehr. Wir haben auch keine Schauspieler mehr, die einen Mythos verkörpern. Das ist ein Problem, aber auch eine normale Entwicklung in unserer Gesellschaft. Andererseits sehe ich als Präsident der Cinémathèque française, dass auch jungen Leuten die alten Filme gefallen.

Ich denke jedoch, dass nach den COVID-19-Schliessungen das Kino nie mehr so sein wird wie früher. Ich versuche jetzt mal das Serien-Format. Vier Episoden habe ich, also die Hälfte. Es ist eine andere Struktur, als Drehbücher fürs Kino zu schreiben – und ziemlich qualvoll. Mal sehen, ob ich reüssiere.


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