Interview Sex-Talkerin Dr. Ruth: «Die Schweiz hat mir das Leben gerettet»

Marlène von Arx

4.2.2019

Sie ist gerade mal 1,40 Meter gross und 90 Jahre alt, aber eine grosse Persönlichkeit und eine junggebliebene Sex-Talkerin: Dr. Ruth Westheimer blickt anlässlich der Premiere ihres Dokumentarfilms «Ask Dr. Ruth» am Sundance Film Festival auf ihr spannendes Leben und ihre Jahre als Flüchtling in der Schweiz zurück.

Waren Sie schon mal hier in Park City?

Nicht nur das. Ich bin einst sogar mit der norwegischen Ski-Legende Stein Eriksen hier die schwarzen Pisten heruntergewedelt. [lacht]

«Ask Dr. Ruth» fasst Ihre inzwischen 90-jährige Geschichte zusammen. Was hat Sie dazu bewogen, diese jetzt zu erzählen?

Es ist quasi der Grabstein für meine Eltern, und er soll die Menschen von heute daran erinnern, dass wir uns alle wehren müssen, dass so etwas nicht wieder passiert. Ich rede nie öffentlich über Politik, ausser wenn es um Abtreibung geht – die muss legal bleiben, sonst wird wieder mit Kleiderbügeln abgetrieben, und das wäre schlimm. Aber wenn ich sehe, wie Kinder an der Grenze von den Eltern getrennt werden, dann kommt mir die Galle hoch. Denn das war meine Erfahrung.

Ihre Eltern wurden Opfer des Holocaust. Wie flüchteten Sie von Frankfurt in die Schweiz?

Meine Eltern schickten mich 1939 mit dem Kindertransport ins Ausland. Ich war zehn Jahre alt und eines der 300 Kinder, die in die Schweiz kamen. 50 davon – darunter ich – kamen ins Waisenhaus Wartheim für orthodoxe Juden im appenzellischen Heiden. Die Schweiz hat mir das Leben gerettet. Es gab auch Kindertransporte nach Frankreich, Belgien, England, Holland und Polen. Wäre ich in einem dieser Züge gewesen, hätte ich nicht überlebt. Für England war ich nicht qualifiziert, denn dort wurden die Kinder manchmal auf nicht-jüdische Familien verteilt, was mir persönlich nichts ausgemacht hätte. Aber ich kam aus einer orthodoxen Familie, also kam ich ins orthodoxe Wartheim.

Sie sprechen im Dokumentarfilm darüber, wie Sie als Hilfskraft im Heim ausgenutzt wurden und dass es Dinge gibt, die Sie der Heimleitung nie verzeihen werden …

Ich möchte betonen: Ich bin enorm dankbar, dass ich in der Schweiz sein durfte. Im Heim sagte man uns, unsere Eltern hätten uns nicht gern, deshalb hätten sie uns weggeschickt. Das ist furchtbar, und das kann ich nicht vergeben und vergessen. Später wurde mir dann klar, dass die Leiter keine psychologische Ausbildung hatten und dass die Angestellten selber in Angst lebten, was nach dem Krieg mit ihnen passieren würde.

Dr. Ruth K. Westheimer (r.) mit der Autorin Marlène von Arx am Sundance Film Festival in Park City.
Dr. Ruth K. Westheimer (r.) mit der Autorin Marlène von Arx am Sundance Film Festival in Park City.
Marlène von Arx

Haben Sie auch gute Erinnerungen an die Zeit in der Schweiz?
Natürlich war ich auch glücklich, ich hatte ja damals einen Freund, den ich im Film besuche! [lacht] Und nochmals: Ich bin der Schweiz sehr dankbar und sage das auch immer wieder. Im Film sehen Sie mich auch in Wengen – das ist im Gedenken an meinen verstorbenen Mann Fred, mit dem ich jedes Jahr nach Wengen gefahren bin, weil es ihm da so gefallen hat. Zu meiner Zeit im Heim war die allgemeine Einstellung Mädchen gegenüber leider, dass sie nicht in die höhere Schule zu gehen brauchten. Und sogar die Schweizer Mädchen mussten eine Prüfung ablegen, dass sie einen Haushalt führen können. Ich habe ein Schweizer Hauswirtschafts-Diplom! Wenn es also mal als Dr. Ruth nicht mehr läuft, kann ich mich in der Schweiz als Hausfrau bewerben. Den Abwasch mach ich, aber Fensterputzen können Sie vergessen. [lacht]

Wie Sie sagen, haben Sie Ihren damaligen Freund aus dem Heim besucht. Wissen Sie auch, was aus den anderen Kindern geworden ist?

Ja, ich habe das langzeitig untersucht. Alle haben es geschafft. Niemand wurde depressiv, wurde zum Alkoholiker oder nahm sich das Leben. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass das alles Kinder waren, die aus einem liebevollen Elternhaus kamen. Man nennt das frühe Sozialisierung, und die ist sehr wichtig.

Sie sind studierte Psychologin und waren eigentlich die erste Fernseh-Sex-Therapeutin. Gibt es auch Themen, die Sie erröten lassen?

Wenn jemand über brutalen Sex sprechen will, sag ich gleich «Nächste Frage», und auch bei Tieren winke ich ab. Das ist nicht mein Gebiet, ich bin keine Veterinärin. Aber allgemein verleidet es mir nie, über Sex zu sprechen. Als Professorin am Lehrer-College der Columbia University lerne ich auch von den Schülern.

Sex ist kein so grosses Tabu-Thema mehr wie in den achtziger Jahren, als Sie bekannt wurden. Mit welchen Fragen befassen Sie sich heute?

Was mir heute besonders Sorgen macht, ist die Vereinsamung der Menschen in allen Generationen. Die Kunst der Konversation geht verloren, weil alle nur an ihren iPhones hängen. Wie eine Frau einen Orgasmus bekommt oder wie ein Mann seine Erektion behält – darüber wissen die Leute heute besser Bescheid, weil man es einfacher irgendwo nachlesen kann. Und weil ich seit Jahren darüber gesprochen habe! Heute müssen wir mehr über die Beziehung reden und wie man jemanden findet, mit dem man sein Leben teilen kann.

Was halten Sie von Tinder?

Ich habe nichts gegen Online-Dating-Apps. Ich habe aber etwas gegen One-Night-Stands. Es kann mir niemand weiss machen, dass das eine gute Sache ist. Geschlechtskrankheiten und Aids gibt es ja immer noch. Und diese unnötige Enttäuschung! Man hat diesen tollen Sex und hört nie wieder was von der Person. Ich musste auch den Begriff «ghosting» lernen. Darüber schreibe ich in der aktualisierten Version von «Sex für Dummies», die dieses Jahr herauskommen wird – wie übrigens auch mein Kinderbuch über Diversität, das «Krokodil, du bist schön» heisst. Man muss nicht verheiratet sein. Ich war dreimal verheiratet, aber gezählt hat eigentlich nur die letzte Ehe mit Fred. Aber ins Bett sollte man nur mit jemandem, mit dem man eine Beziehung hat. Frauen sind heute nicht mehr abhängig von Männern, sie können auch Kinder alleine haben. Aber die meisten Leute – ob hetero- oder homosexuell – wollen doch einen Lebenspartner, auf den man sich verlassen kann.

Sie sind eine Frohnatur. Was machen Sie, wenn Sie mal nicht gut drauf sind?

Dann ziehe ich mich zurück. Es gibt Dinge, über die rede ich nicht, und ich weiss meine Privatsphäre zu schützen. Es wird beispielsweise nie jemand etwas über mein Sexleben erfahren oder wieviel Geld ich habe. [lacht]  Deutsche Juden – vielleicht Deutsche allgemein – weinen nicht in der Öffentlichkeit. Und wenn es doch welche tun: Toll, ich reiche ihnen gern ein Taschentuch.

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