Im Frühjahr kamen Vorwürfe gegen «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt zu Machtmissbrauch auf. Reichelt bekam eine zweite Chance. Jetzt gibt es neue Medienberichte, und der Konzern zieht einen Schlussstrich.
dpa/toko
18.10.2021, 20:26
19.10.2021, 10:20
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Der Medienkonzern Axel Springer hat mit sofortiger Wirkung «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt von seinen Aufgaben entbunden. Das teilte das Unternehmen am Montag in Berlin mit. Neuer Vorsitzender der «Bild»-Chefredaktion wird Johannes Boie. Der 37-Jährige ist derzeit Chefredakteur der zu Springer gehörenden Zeitung «Welt am Sonntag». Reichelt verlässt den Medienkonzern und damit auch Deutschlands grösste und auflagenstärkste Boulevardzeitung.
Springer begründet das Ende der Zusammenarbeit mit dem 41-Jährigen an der Spitze so: «Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen. Dabei hat der Vorstand erfahren, dass Julian Reichelt auch nach Abschluss des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.»
Am Montag wurde dann das abrupte Ende bekannt gemacht. Das Ganze kam durch einen Bericht der «New York Times» ins Rollen: Die US-Zeitung berichtete am Sonntag in einem langen Artikel über den Medienkonzern Axel Springer auch mit Blick auf die Pläne zur Übernahme der US-Mediengruppe Politico.
Springer will in seinen digitalen Geschäften stärker wachsen und entschied sich mit dem Polit-Newsletter Politico für die nach eigenen Angaben grösste Unternehmensübernahme der Firmengeschichte. Dem Deal müssen noch Behörden zustimmen. Springer sieht in den USA einen Wachstumsmarkt.
Die US-Zeitung ging in dem Artikel auch auf die im Frühjahr bekanntgewordenen Vorwürfe gegen Reichelt ein und brachte Recherchen ins Spiel, die das Investigativ-Team der Mediengruppe Ippen («Frankfurter Rundschau», «Münchner Merkur», «TZ») in den vergangenen Monaten vorangetrieben hatte. Diese Recherchen sind bislang nicht veröffentlicht worden. Darüber berichtete auch das Medienmagazin «Übermedien».
Verleger verhindert Veröffentlichung
Eigentlich hätten sie bereits publiziert sein sollen, die Mediengruppe Ippen entschied sich auf Einwirken des Verlegers Dirk Ippen zunächst gegen die Veröffentlichung. Das löste Kritik aus, das Recherche-Team schrieb einen Brief an Geschäftsführung und Verleger.
Das Schreiben kursierte im Internet. Darin hiess es: «Unsere Recherche-Ergebnisse deuten auf Missstände und Machtmissbrauch im Hause Axel Springer und durch den mächtigsten Chefredakteur Deutschlands hin.» Weiter hiess es: «Besonders irritiert hat uns die Tatsache, dass für den Stopp der Recherche keine juristischen oder redaktionellen Gründe angeführt wurden.»
Die auch zur Ippen-Mediengruppe gehörende Zeitung «Frankfurter Rundschau» (FR) schrieb in einem Online-Bericht in eigener Sache: «Wir unterstützen den Protestbrief des Investigativ-Teams an Verleger Dirk Ippen. Redaktionelle Unabhängigkeit ist die unabdingbare Grundlage für Qualitätsjournalismus, Vertrauen ist ihr wertvollstes Gut. Dieses darf niemals verletzt werden.»
Bislang blieb unklar, ob die Recherchen von Ippen-Investigativ möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden. Die Mediengruppe äusserte sich auf Nachfrage der Deutschen Presse-Agentur dazu nicht. Als Begründung für den Stopp der Veröffentlichung hiess es: «Als Mediengruppe, die im direkten Wettbewerb mit ‹Bild› steht, müssen wir sehr genau darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, wir wollten einem Wettbewerber wirtschaftlich schaden.»
Das Medienhaus, das in München die Boulevardzeitung «TZ» publiziert, ergänzte: «Daher ist die Entscheidung gefallen, jeden Eindruck zu vermeiden, wir könnten Teil eines Versuchs sein, einen solchen wirtschaftlichen Schaden anzurichten. Damit war das Thema einer Erstveröffentlichung dieser Recherchen vom Tisch.»
Nach Angaben des Ippen-Medienhauses hatte es keine Beeinflussung durch Springer bei der Entscheidung gegeben, auf eine Veröffentlichung zu verzichten. «Der Austausch mit Springer beschränkte sich auf den in diesen Fällen üblichen Schriftwechsel der jeweiligen Anwälte.»
Ein Springer-Sprecher teilte auf Anfrage mit: «Mit Wissen von Axel Springer gab es keinen Versuch, Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der Compliance-Untersuchung zu verhindern. Davon unbenommen sind rechtliche Hinweise, die der Wahrung berechtigter Interessen des Unternehmens und seiner Mitarbeiter dienen.»
Reichelt arbeitete seit 2002 für den Medienkonzern. Der Journalist war Vorsitzender der «Bild»-Chefredaktionen und trug die übergeordnete redaktionelle Verantwortung der Bild-Marke mit Deutschlands grösster Boulevard-Tageszeitung mit einer Auflage von rund 1,2 Millionen Exemplaren (mit Berliner Boulevardzeitung «B.Z»). Der 41-Jährige war zudem Sprecher der Geschäftsführung für die Bild-Marke. Vor allem mit seiner Arbeit als Reporter in Kriegsgebieten wurde Reichelt vielen bekannt.
«Journalistisch hervorragend entwickelt»
Springer-Chef Mathias Döpfner sagte am Montag: «Julian Reichelt hat ‹Bild› journalistisch hervorragend entwickelt und mit BILD LIVE die Marke zukunftsfähig gemacht. Wir hätten den mit der Redaktion und dem Verlag eingeschlagenen Weg der kulturellen Erneuerung bei BILD gemeinsam mit Julian Reichelt gerne fortgesetzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.»
Neben Boie auf der Topposition bei «Bild» bleibt Alexandra Würzbach Chefredakteurin «Bild am Sonntag» und verantwortet das Personal- und Redaktionsmanagement. Diesen Bereich hatte sie bereits bei Reichelts Rückkehr im Frühjahr übernommen. Claus Strunz ist als Chefredakteur für das Bewegtbildangebot verantwortlich.
Springer beschäftigt rund 16'000 Mitarbeiter weltweit. Neben den journalistischen Flaggschiffen «Bild» und «Welt» ist der Konzern in digitalen Geschäften wie Newslettern aktiv. Auch Rubrikenportale sind ein wichtiges Standbein. Ausserdem investiert Springer auch in andere Unternehmen. 2019 ging der Medienkonzern in Berlin eine Partnerschaft mit dem US-Finanzinvestor KKR ein und zog sich dazu auch 2020 von der Börse zurück. Das Ziel: Schneller in den digitalen Geschäften wachsen.
In den vergangenen Monaten stemmte Springer ein Mammut-Projekt: Seine immer noch auflagenstärkste Zeitung «Bild» bekam auch einen gleichnamigen TV-Sender. Das frei empfangbare TV-Programm startete im August. Springer will Millionen in den Ausbau seines Videoangebots investieren. Im TV wird in Deutschland nach wie vor viel Geld mit Werbung verdient.