Amerikas bekannteste Sex-Therapeutin wird 90 «Dr. Ruth»: Amerikas bekannteste Sex-Therapeutin wird 90

Von Christina Horsten, dpa

1.6.2018

Nur 1,44 Meter ist Ruth Westheimer gross - aber ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihr Arbeitswille sind riesig. Sie überlebte den Holocaust und wurde in den USA zur wohl bekanntesten Sex-Therapeutin des Landes. Jetzt wird «Dr. Ruth» 90 Jahre alt - und arbeitet weiter.

Die frühere «Vanity Fair»-Chefredakteurin Tina Brown erinnert sich noch gut an ihre Ankunft in New York Anfang der 1980er Jahre. «Ich sass in einem Taxi, das mich zu einem Hotel in Midtown bringen sollte, und ich hörte diese Stimme im Radio: "Du musst ihn in deinen Mund nehmen und hoch und runter bewegen. Du musst sicherstellen, dass das Gefühl stimmt." Und ich dachte mir: Was zur Hölle ist das?», erzählte Brown jüngst dem «Longform Podcast».

«Dann habe ich den Taxifahrer gefragt und er sagte: "Das ist Dr. Ruth, die Show höre ich immer am Sonntagabend." Das war also mein Empfang in New York - und ich schaukelte im Taxi herum und dachte mir, ich verstehe diesen Ort schon jetzt überhaupt nicht und dabei bin ich noch nicht mal im Hotel.»

«Dr. Ruth» ist Kult in den USA und das seit Jahrzehnten. Am Montag (4. Juni) wird die in Deutschland geborene Ruth Westheimer, die wohl bekannteste Sexualtherapeutin, 90 Jahre alt - und arbeitet wie eh und je. Vor kurzem wurde Westheimer in die deutsch-amerikanische Ruhmeshalle aufgenommen. «Ich habe viel Respekt für meine Herkunft», sagte sie damals - wie immer mit starkem hessischen Zungenschlag im Englischen. «Und auch wenn wir hier in diesem Land gerade durch sehr schwierige Zeiten gehen, werden wir es überstehen, denn die USA sind ein starkes Land.»

Flucht in die Schweiz

Geboren wird Karola Ruth Siegel 1928 in Wiesenfeld in der Nähe von Frankfurt in eine jüdische Familie hinein. Als Zehnjährige, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, kommt sie mit einem Kindertransport in die Schweiz. So entkommt sie dem Holocaust, ihre Eltern und die geliebte Grossmutter aber sieht sie nie wieder. Die Nationalsozialisten ermorden Mutter und Vater im Konzentrationslager Auschwitz.

Nach dem Krieg, noch als Teenager, zieht Ruth nach Palästina, wird zur Scharfschützin ausgebildet und kämpft im Untergrund für ein freies Israel. Nachdem sie von einer Granate schwer verletzt wurde, beginnt sie ein Studium an der Sorbonne in Paris. Ein Scheck der Bundesregierung über 5000 Mark zur Entschädigung für erlittenes Leid ermöglicht es ihr 1956, in die USA zu gehen. Dort setzt sie das Studium fort, heiratet Manfred Westheimer und bekommt zwei Kinder. «Dr. Ruth» ist nur 1,44 Meter gross - aber «wenn Grösse in Mut, Entschlossenheit und harter Arbeit gemessen würde, müsste diese kleine Frau 2,50 Meter gross sein», schrieb der «Newsday» einmal.

Den Durchbruch schafft Westheimer Anfang der 80er Jahre mit einer Radio-Show - der, die Tina Brown damals im Taxi hörte. Mit ansteckendem Rumpelstilzchen-Kichern gab «Dr. Ruth» Sex-Tipps und jonglierte ohne Hemmungen mit Begriffen wie Ejakulation und Masturbation. Dem 15-minütigen Frage- und Antwort-Programm «Sexually Speaking» bei einem New Yorker Lokalsender folgten Einladungen von Fernsehstationen aus aller Welt. Hunderttausende suchten im Schutz der Anonymität den Rat der mütterlichen Expertin. «Ihr Name und der ausgeprägte Klang ihrer Stimme sind untrennbar mit dem Thema Sex verbunden», urteilte einmal «New York Times».

Über 30 Sex-Ratgeber veröffentlicht

«Die Fragen sind überall die gleichen», sagte Westheimer einmal der Deutschen Presse-Agentur. Zwar brüste sich jedes Land, die besten Liebhaber zu haben. Sie aber könne keinen Weltbesten erkennen. Purer «Quatsch» sei auch das Bild vom angeblich so puritanischen Amerika im Vergleich zu einem sexuell sehr viel freieren Europa. Mehr als 30 Sex-Ratgeber hat Westheimer verfasst, viele davon sind auch auf Deutsch erschienen.

In ihre Heimatstadt Frankfurt kehrt «Dr. Ruth» jedes Jahr zur Buchmesse zurück. «Um den Bahnhof mache ich einen grossen Bogen. Aber in meiner alten Wohnung in der Brahmsstrasse 8, im Nordend, habe ich mich noch einmal umgeschaut», erzählte sie. «Es ist schwierig für mich, aber ich gehe stolz und mit geradem Rücken. Hitler hat nicht gewonnen! Er wollte, dass ich sterbe. Stattdessen habe ich jetzt Kinder und Enkelkinder. Damals war es eine Flucht. Jetzt schlafe ich im "Frankfurter Hof". Wer hätte das gedacht?»

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