Kolumne am Mittag Ein verliebter Tintenfisch und die Heulsuse

Von Bruno Bötschi

11.5.2021

Kolumnist Bruno Bötschi ist im Kino zwar nah am Wasser gebaut, der hochgelobte Kraken-Film lässt ihn jedoch kalt wie einen Fisch. Statt Tränen gibt es immerhin ein wenig Sympathie als Beifang.

Von Bruno Bötschi

11.5.2021

Der Film wurde mir in den vergangenen Wochen und Monaten immer und immer wieder von Netflix empfohlen. Ich weiss auch warum: Ich habe die Serie «Mein Leben auf unserem Planeten» von Sir David Attenborough positiv bewertet. Seither denkt Herr Algorithmus wahrscheinlich, er könne mir jeden Tier- und Naturfilm unterjubeln.

Irgendetwas hielt mich jedoch davon ab, «My Octopus Teacher» («Mein Lehrer, der Krake») zu schauen – und das, obwohl ich mich wegen der Corona-Pandemie in den letzten Monaten zum eingefleischten Neflix-Junkie entwickelt habe.

Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äussersten Extremitäten verästelt ist: Tintenfische sind unglaubliche Wesen.

«Sie werden weinen», schwärmte die «Zeit» vom Dokumentarfilm. «Sie, ein Krake – er, Taucher. Es ist Liebe.» Und weiter: «Und eventuell werden Sie sogar erwägen, Ihr eigenes Leben und Ihren Blick auf die Natur zu verändern, nachdem Sie diesen Dokumentarfilm … gesehen haben.» Ich las und dachte: Machen die da Werbung für ein Erweckungsvideo irgendeiner seltsamen Sekte?

Forster ging zurück ins Wasser

Okay, vor ein paar Tagen habe ich mir den Film von Craig Foster dann doch noch angeschaut. Der Tierfilmer und Taucher lebt mit Frau und Sohn direkt am Wasser in einer Holzvilla mit Blick auf Südafrikas Atlantikküste. Forster reiste jahrelang um die Welt. Er tauchte mit Haien, er ging mit den weltbesten Fährtenlesern in der Kalahari auf Jagd.

In «My Octopus Teacher» erzählt er von seiner Lebenskrise. «Ich wurde krank von all dem Druck.» Irgendwann kann er nicht mehr richtig schlafen, ein Burnout droht. Im Jahr 2010 der Zusammenbruch. Der Filmemacher will nie mehr eine Kamera in die Hand nehmen.

Wer ist da in wen verliebt? Die Tintenfisch-Dame streckt einen ihrer Tentakel zu Filmemacher Fosters Fingern aus und berührt mit ihren Saugnäpfen seine Hand.
Wer ist da in wen verliebt? Die Tintenfisch-Dame streckt einen ihrer Tentakel zu Filmemacher Fosters Fingern aus und berührt mit ihren Saugnäpfen seine Hand.
Bild: Netflix

Während Foster das erzählt, sitzt er in seinem Wohnzimmer. Er spricht darüber, wie er in dieser schweren Zeit an seine Kindheit dachte, als er vor der Ostküste des Kaps von Afrika schwamm – und Lust bekam, es wieder zu tun.

Forster ging also zurück ins Wasser. Ohne Neopren-Anzug. Ohne Taucherflasche. Ohne Kamera. Nur er und das Meer. Immerhin, Maske, Schnorchel und Flossen hat er dabei.

Er kämpft sich durch die Brandung in die ruhigeren Tiefen, schwebt schwerelos mit den Tieren und Pflanzen durch die Wogen, schaut den Fischen zu, entdeckt verrückte Kreaturen. Bis ihm eines Tages der besagte Oktopus begegnet. Ein gemeiner Krake. Ein Weibchen.

Oktopusfrau berührt Taucher

Bald besucht er das Tier täglich. Weiterhin nur mit Maske, Schnorchel und Flosse. Bis Foster irgendwann spürt, dass da mehr ist und er seine Unterwasserkamera mitnimmt. Kurz darauf ein erster Höhepunkt: Die Tintenfisch-Dame streckt einen ihrer Tentakel zu seinen Fingern aus und berührt mit ihren Saugnäpfen seine Hand.

«Foster ist verliebt. Der Oktopus womöglich neugierig», schreibt die «Zeit». Manch eine Zuschauerin, manch ein Zuschauer wird in diesem Moment zum ersten Mal feuchte Augen bekommen. Ich, der sonst im Kino durchaus nah am Wasser gebaut ist, frage mich stattdessen misstrauisch: Wo ist die am Anfang des Films erwähnte Brandung, deren Gischt so lebensbedrohlich um die Felsen tobt?

Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äussersten Extremitäten verästelt ist: Oktopusse sind unglaubliche Tier.
Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äussersten Extremitäten verästelt ist: Oktopusse sind unglaubliche Tier.
Bild: Netflix

Ich war einmal Schnorcheln und fand das wunderbar. Aber beim «Liebesspiel» von Oktopus-Frau und Taucher bleibe ich seltsam kühl. Mir kommt alles ein bisschen zu schön vor, zu perfekt, zu aalglatt. Ist das wirklich Foster allein, der da filmt?

Nein, ist es nicht. Was im Film nach ungestörter Zweisamkeit aussieht, wird von einem Filmteam begleitet, sprich: hochprofessionell aufgenommen. «Trotz Zweifeln, wie viel hier wirklich streng dokumentiert und wie viel absichtsvoll inszeniert ist: «My Octopus Teacher» bleibt eine herausragende Unterwasserdokumentation», schreibt «Die Zeit» dazu.

Foster erwähnt weder seine Kamerafrau Pippa Ehrlich noch das restliche Team, obwohl er seine täglichen Tauchgänge scheinbar minutiös dokumentiert und sein Film tagebuchartig aufgebaut ist: Die erste Berührung, die Jagd nach Futter, die Tintenfisch-Dame übertölpelt einen Hai, Flucht auf das Land. 

Vielleicht ist es genau deswegen, dass mich Fosters Doku, die gerade eben mit einem Oscar als beste Dokumentation ausgezeichnet worden ist, trotz wunderbarer Bilder so wenig berührt. Ein Hingucker ist der Meeres-Film allemal, aber man muss ja nicht gleich flennen: Tränen unter Wasser sind eh nur Schall und Rauch.

Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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