TV-Tipp 30 Jahre Tiananmen-Massaker: Schmerz, Schuld und Verfolgung

tsch

4.6.2019

Studenten beschlossen, am 13. Mai auf dem Tiananmen-Platz einen Hungerstreik auszurufen.
Studenten beschlossen, am 13. Mai auf dem Tiananmen-Platz einen Hungerstreik auszurufen.
YAMI 2/Agence VU/Manuel Vimenet

Beide waren am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz: Student Fang Zheng und Soldat Li Xiaoming. Beide wirken auch 30 Jahre nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung in China traumatisiert.

Fang Zheng sitzt im Rollstuhl. Er hat beide Beine verloren, als ihn damals ein Panzer überrollte. Und Li Xiaoming, der Ex-Offizier, bricht in Tränen aus, als er sagt: «Ich habe nicht geschossen. Ich habe niemanden getötet. Aber es tut mir so leid.»

Beide leben heute im Exil. Nur deswegen können sie offen über das Pekinger Massaker sprechen. Beide wollen das dunkle Kapitel in Chinas Geschichte aufklären. Erstmals treffen sie sich bei einer Konferenz zum 30. Jahrestag in Taipeh, der Hauptstadt des demokratischen, freien Taiwans.

Etwas «unbehaglich» fühlt sich Fang Zheng schon, auf dem Podium direkt neben Li Xiaoming zu sitzen. Der frühere Soldat kann es verstehen: «Es ist etwas eigenartig.» Beide haben noch nie miteinander gesprochen, teilen aber eine gemeinsame Geschichte.

Hunderte Tote trotz Rückzug

Fang Zheng war in der Demokratiebewegung 1989 ein «einfacher Teilnehmer», wie der damalige Sportstudent sagt. «Am Morgen des 4. Juni um 6.00 Uhr war ich einer der letzten, die den Tiananmen-Platz verliessen.» Der Platz des Himmlischen Friedens war schon völlig geräumt. «Wir Studenten zogen uns friedlich und geordnet zurück.»

Plötzlich rollten an der Liubukou-Kreuzung der Strasse des Ewigen Friedens (Chang'an) Panzer in hoher Geschwindigkeit an und feuerten Gasgranaten, die zwischen den Studenten explodierten. Gaswolken nebelten sie ein. «Eines der Mädchen der unteren Jahrgänge meiner Schule, die vor uns gingen, wurde bewusstlos.»

Er trug das Mädchen an die Seite der Strasse. Im Augenwinkel sah Fang Zheng plötzlich, wie ein Panzer rasch auf ihn zurollte. So schob er das Mädchen schnell in Sicherheit, konnte sich aber selbst nicht mehr retten. 

Hunderte kamen damals ums Leben, als die Parteiführung die Truppen schickte, um den friedlichen Protest zu ersticken. Forscher verweisen auch auf eine damalige Schätzung des chinesischen Roten Kreuzes von 2600 Toten. Aber niemand weiss es.

Hoher Preis für die Suche nach Wahrheit

Der Militäreinsatz ist in China bis heute ein politisches Tabu. So mancher Angehörige der Opfer schweigt unter dem Druck des Apparats. «Viele haben auch ein Tauschgeschäft gemacht, um weiter zu studieren, den Lebensunterhalt zu verdienen und die Probleme für die Familie zu verringern», weiss Fang Zheng.

Er selbst wollte nicht schweigen, hat dafür einen Preis gezahlt. Die Verfolgung wurde so unerträglich, dass er 2009 mit Frau und Tochter in die USA ausreiste.

Er will die Wahrheit wissen. «Warum gab es Panzer, die Studenten mit hohem Tempo töteten, wenn das Militär die Räumung des Platzes bereits abgeschlossen hatte», fragt Fang Zheng. War es Absicht, ein Befehl, Zufall? Ist jemand durchgedreht?

«Mit einer ganzen Gruppe von Panzern dürfte es keine Einzeltat gewesen sein – sondern es muss einen Befehl gegeben haben», ist sich Fang Zheng sicher. Er will wissen, wen in Chinas Parteiführung und Militär die Schuld trifft. «Ich hoffe, dass die Wahrheit über den 4. Juni bald enthüllt wird.»

Schuldgefühle bleiben

Jemand wie Li Xiaoming, heute Generalsekretär der demokratischen Koalition der Überseechinesen in Australien, kann und will helfen. Dafür ist ihm Fang Zheng dankbar: «Ich hoffe, eines Tages, wenn es vor Gericht kommt, werden wir Augenzeugen wie Li Xiaoming aus dem Militär finden.»

Es klingt versöhnlich. Beide kämpfen heute im Exil für die gleiche Sache – die Wahrheit und ein demokratisches China. «Ich will die Leute wissen lassen, was 1989 wirklich passiert ist», sagt der Ex-Leutnant, der nur zwei Jahre vor dem tragischen Einsatz die Militärhochschule verlassen hatte.

«Ich war auch Student gewesen, nur in Uniform», sagt Li Xiaoming. «Wenn ich damals auf dem Tiananmen-Platz gewesen wäre, hätte ich wie die anderen auch gegen Korruption in der Regierung demonstriert und Demokratie gefordert.»

Ihn plagen bis heute Schuldgefühle. Immer wieder beteuert er, niemanden getötet zu haben. Immer wieder kämpft er mit seinen Gefühlen. «Ich sah, wie Leute getötet wurden. Ich hörte, wie Leute getötet wurden.» In Australien, wo er seit fast 20 Jahren lebt, war er in psychologischer Behandlung. «Ich spüre den Schmerz noch immer.»

«Zum Tiananmen-Platz – um jeden Preis»

Wochenlang war die kommunistische Führung im Frühjahr 1989 wie gelähmt, als die Proteste im ganzen Land an Fahrt gewannen und die Studenten in den Hungerstreik traten. Der reformerische Parteichef Zhao Ziyang hatte Sympathien für die Studenten, verlor aber am Ende den Machtkampf gegen die Hardliner und den «starken Mann» Deng Xiaoping, der die Entscheidung zum gewaltsamen Vorgehen traf.

«Wir wurden aufgefordert, zum Tiananmen-Platz zu gelangen – um jeden Preis», schildert Li Xiaoming. Das beinhaltete den Einsatz von Waffen. Sein Kommandant habe aber gesagt, sie könnten auch in die Luft oder in den Boden schiessen, um Studenten zu vertreiben.

Gab es unterschiedliche Befehle für verschiedene Einheiten? Oder wurden sie jeweils anders verstanden? Auf jeden Fall sei die Stimmung unter den Soldaten aufgepeitscht gewesen. «Ich sah diesen Soldaten. Er schoss in die Menge. Aus nächster Nähe, vielleicht 100 Meter.»

Aufbruchstimmung erstickt

Niemand hatte damit gerechnet, dass die ruhmreiche Armee auf das eigene Volk schiessen würde. Bis dahin herrschte Aufbruchstimmung, Hoffnung auf eine demokratische Zukunft für China.

«Dass die Volksbefreiungsarmee offen Kugeln und Panzer einsetzte, um unbewaffnete chinesische Zivilisten im grossen Stil zu töten, bedeutete einen plötzlichen Verlust der Legitimität für die Partei in grossen Teilen der Bevölkerung», berichtet der China-Professor Michel Bonnin. Es habe ihnen «die Brutalität des Regimes» vor Augen geführt.

In den folgenden Jahren kompensierte die Parteiführung die Lücke mit Nationalismus und antiwestlicher Propaganda. Deng Xiaoping bot dem Volk mit seinen Wirtschaftsreformen ein «Geschäft» an: Politischer Gehorsam gegen die Aussicht, reich oder zumindest wohlhabender als zuvor zu werden.

Gepaart mit Zensur, Einschüchterung, Verfolgung und Kontrolle hat es weitgehend funktioniert – heute sogar mit modernster digitaler Technologie. «Die Antwort auf das Gespenst von 1989 war 1984», sagt Bonnin unter Hinweis auf den dystopischen Roman «1984» von George Orwell über den totalen Überwachungsstaat.

Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping hat den Griff noch einmal verstärkt. «Es übertrifft meine Erwartungen», sagt Wang Dan, der auf Platz eins der meistgesuchten Studentenführer stand und bis zu seiner Ausreise 1998 in die USA zusammen über mehr als fünf Jahre mehrere Haftstrafen abgesessen hat.

«Ich hätte nie gedacht, dass die Kommunistische Partei demokratische Reformen einleiten würde, aber ich hätte auch nie gedacht, dass sie jetzt sogar rückwärts geht – selbst zurück in die Kulturrevolution.»

Die Doku «1989, Platz des Himmlischen Friedens» läuft Dienstag, 4. Juni, um 20.15 Uhr auf ARTE. Mit Swisscom Replay TV können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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