50 Jahre «Tatort» Krimi-Kult – so nah wie heute waren wir den Leichen noch nie

Von David Eugster

29.11.2020

«Tatort» aus Göttingen: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) wird zur Geisel von Benno (Matthias Lier), im Hintergrund: Kommissarin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba).
«Tatort» aus Göttingen: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) wird zur Geisel von Benno (Matthias Lier), im Hintergrund: Kommissarin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba).
Bild: dpa

Vor 50 Jahren wurde der erste «Tatort»-Krimi überhaupt ausgestrahlt. Seither wird fast jeden Sonntagabend ein Mord aufgeklärt – und Millionen schauen zu. Was hat sich verändert?

Am 29. November 1970 um 20.15 wurde der erste «Tatort» ausgestrahlt. Heute wird die Krimiserie als «letztes mediales Lagerfeuer» bezeichnet, vor dem es sich Millionen so gemütlich machen wie früher bei «Wetten, dass...?»

Doch Menschen waren schon vor der Erfindung des Fernsehers immer gebannt dabei, wenn davon erzählt wurde, wie andere sich die Köpfe einschlagen. Schon in der Bibel dauert es nicht lange, bis es zum ersten Mord kommt – kaum gibt es zwei Brüder, ist einer tot.

Doch im 18. Jahrhundert begann sich das Erzählen von Mordgeschichten zu verändern, es wurde genauer: Man sah Verbrecher nicht mehr nur als vom Satan getriebene Übeltäter, sondern begann sich für ihre Motive zu interessieren. Die ersten Krimierzählungen jener Jahre wollten verstehen, aus welchen Gründen jemand mordete.

Diesen Geist atmet der «Tatort» bis heute: Die Sonntagabendserie sollte nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der Aufklärung dienen. Die Leiche ist kaum je nur das Opfer eines Mörders, sondern immer das Resultat gesellschaftlicher Missstände. Gunter Witte, der 1969 das Konzept der «Tatort»-Reihe für vorerst zwei Jahre entwarf, betonte, der «Tatort» stelle immer wieder «gesellschaftliche und menschliche Konflikte der Gegenwart» und «Lebensfragen der Epoche» dar. Kaum ein Thema bleibt unbehandelt.

50 Jahre «Tatort»: Interview mit Regisseur Florian Froschmayer

50 Jahre «Tatort»: Interview mit Regisseur Florian Froschmayer

Was macht diese Krimi-Reihe derart erfolgreich? Das fragen Vania und Frank Regisseur Florian Froschmayer. Der Exil-Zürcher hat schon fünf «Tatort»-Folgen gedreht. Darunter den besten «Tatort» 2015 «Ihr werdet gerichtet».

28.11.2020

Gerade dieser Wille, gesellschaftlich brisante Themen zu Mordfällen umzuarbeiten (oder auch mal zu verwursten), hält den «Tatort» jung. Er konnte 50 Jahre überstehen, weil eben alles anders werden darf.  Alle Episoden seit 1970 überlebt hat nur der Vorspann: Das immer wiederkehrende Spiel der Augen zur fetzigen Musik soll sowohl Ermittler als auch Täter darstellen, das Gesicht mit den abwehrenden Händen soll das Opfer eines Angriffs darstellen: Hier kommt die Triade zusammen, die jeden Krimi ausmacht: Ermittler-Täter-Opfer.

Die Ermittler und Ermittlerinnen

Im «Tatort» ermittelten in den vergangenen Jahrzehnten über 100 Kommissare und Komissarinnen.  In den 1970er Jahren drängten sich die Kommissare – es waren anfänglich nur Herren, erst ab 1978 ermittelten die ersten Frauen – noch nicht so in den Vordergrund. In den ersten Folgen experimentierte man noch mit einem James Bond'schen Playboy mit schnellem Schlitten und einem Hemdausschnitt wie John Travolta – doch er wurde nach fünf Folgen abgesetzt.

Die Zeit war noch nicht reif für Exzentriker mit einem ausschweifenden Privatleben. Die Beziehung von Kommissar Veigl mit seinem biertrinkenden Dackel Gustav konnte im Verhältnis schon fast als exzessiv gelten – gespielt wurde der bayerische Ermittler von Gustl Bayrhammer, der später im «Pumuckl» mit derselben Gelassenheit den Meister Eder gab.

Besonnenes Beamtentum herrschte also vor. In den 1980er Jahren wurden die Trenchcoats dann aber doch schmutzig, Goetz George als Horst Schimanski betrat 1981 mit Faust und Fresse das Feld. Er war die Ruhrpott-Anverwandlung des hard boiled detectives, den man aus US-amerikanischen Krimis kannte.

Ein Polizeipräsident soll damals geschrieben haben, so einer wie der dürfte bei ihm nicht mal einen einfachen Diebstahl ermitteln. Schimanski war in gewissem Sinne ein Reformprodukt der 1970er Jahre: Ein Staatsbeamter konnte mittlerweile auch ein prügelnder und fluchender Nonkonformist mit politischem Gewissen und toleranter Ader sein.

Götz George in seiner Rolle als «Tatort»-Kommissar Schimanski bei Dreharbeiten im Hafen. Die berühmte Schimanski-Jacke ist eine M-65-Feldjacke, die 1965 bei den US-Streitkräften eingeführt wurde.
Götz George in seiner Rolle als «Tatort»-Kommissar Schimanski bei Dreharbeiten im Hafen. Die berühmte Schimanski-Jacke ist eine M-65-Feldjacke, die 1965 bei den US-Streitkräften eingeführt wurde.
Keystone

Trat mit Schimanski der individualistische Rüpel auf den Plan, wurde in den 1990ern das Team wichtiger. 1991 nehmen Miro Nemec und Udo Wachtveitl als Ivo Batic und Udo Wachtveitl die Ermittlungen auf. Heute stehen sie kurz vor der Pensionierung und haben mit um die 60 Fälle die meisten Verbrechen gelöst. In den Ermittlerteams reflektiert der «Tatort» auch immer die Arbeitswelt: Einzelne leben in stoischer Koexistenz, andere werden zu Freunden, während andere sich nur ankläffen.

Hier sind uns Zuschauer*innen die Komissare wahnsinnig nahe, denn was sie in ihren Autos auf dem Weg von Leiche zu Leiche erleben, kennen wir auch aus dem Kopierraum. Der erste Zürcher «Tatort» hat diese Dynamiken nochmals voll ausgeschöpft.

1989 brachten nicht nur der Welt, sondern auch dem «Tatort» grössere geopolitische Verschiebungen: Die Schweiz trat ins «Tatort»-Universum ein, zuerst mit einem Team von Bern aus, dann in Luzern und seit neuestem in Zürich.

Der allererste Schweizer «Tatort», in dem Matthias Gnädiger den Kommissar spielt, endete mit dem Selbstmord des Ermittlers: Vielleicht hat er die Kritik und die Skepsis, die dem Schweizer «Tatort» auf beiden Seiten des Rheins begegnen würde, vorausgesehen …

Die Mörder

Gerade mal 2 Prozent der «Tatort»-Ausstrahlungen kamen ohne Tote aus – in den anderen wurde über 1000 Mal ein Mörder oder eine Mörderin gesucht. Die Zahl ruft nach Statistiken! Laut einer 2017 publizierten Auswertung ist der Fall klar: Männer morden am liebsten, sie stellen drei Viertel der Mörder.

Nach Berufsarten sortiert machen Manager den grössten Killer-Anteil aus: Auch hier blieb der «Tatort» ein Kind der kapitalismuskritischen 1970er. Die Unternehmer werden dicht gefolgt von Verbrechern, bei denen das Meucheln gewissermassen zum Berufsbild gehört – danach folgen Schüler, die mit dreissig Morden doch eine merkwürdig signifikante Sonntagabend-Mördergruppe stellen. Nach ihnen folgen Polizisten, Arbeitslose, Juristen und Ärzte. Bei den Frauen wurde die Auffälligkeit beobachtet, dass insbesondere Frauen aus gutem Hause, die keine Kinder kriegen konnten, zu Mörderinnen werden. Daneben dominiert Eifersucht als wiederkehrendes Motiv.

Ebenfalls in den 1990ern betrat der psychopathische Serienmörder die Bühne – der Einfluss amerikanischer Profiler-Filme wie «Das Schweigen der Lämmer» wird deutlich, und während die Ermittler neuerdings ein Privatleben mit Problemchen haben, werden die Obsessionen der Täter stärker.

Zugleich wurden die Motive der Mörder im Verlauf der Zeit immer komplexer und die Grenzen zwischen Täter und Opfer verwischten sich: Symptomatisch dafür war der Luzerner «Tatort» «Skalpell» von 2012. Darin wird ein Arzt ermordet, der jahrzehntelang Geschlechtsangleichungen bei intersexuellen Kindern durchgeführt hat. Die «Tatort»-Folge thematisiert Intersexualität offen und zeigt, wie das aufgezwungene Geschlecht Jugendliche in Depressionen treibt.

Der Täter ist der Vater einer operierten Jugendlichen, die sich umbrachte. In einem symbolisch leicht durchschaubaren Racheakt schoss er dem damals operierenden Arzt mit einer Armbrust ein Skalpell in den Hals.

Die Leiche

Der Kulturwissenschaftler Georg Seesslen stellte dazu fest: «Ermordet werden in deutschen Fernsehkrimis vorzugsweise Menschen, von denen wir annehmen müssen, dass sie es durch ihren unmoralischen Lebenswandel oder durch ihre Statur ‹irgendwie› doch verdient haben.»

In einigen Studien wird der Verdacht geäussert, dass der Tod auch im «Tatort» nicht selten eine Strafe geblieben ist. Der Mord als Erzählmittel zeigt hier seine Tücken: Um das Schlaglicht auf Angehörige von Minderheiten zu werfen, lässt man sie im Plot vorzugsweise ermorden. So erschienen beispielsweise Nicht-Heterosexuelle oft als Leichen, kaum als Ermittler – 2001 küsste die Kommissarin Lena Odenthal eine Frau, mit Kommissar Robert Karow ermittelt seit einigen Jahren ein Mann, der auch gern mit Männern schläft.

Was sich in den letzten 50 Jahren ebenfalls deutlich verändert hat, ist der Blick auf die Leiche. Einerseits ist – wie in anderen Krimiformaten – auch im «Tatort» der Aufstieg der Berufsgruppe zu beobachten, die am engsten mit den Leichen-Darstellern zusammenarbeitet: der Gerichtsmediziner. Ihre Redebeiträge haben sich seit 1970 mehr als versechsfacht, das Publikum akzeptiert immer mehr auch Fachvokabular – wissen wir doch mittlerweile alle, was ein «Thorax» ist. Das schreibt Stephan Völlmicke, ein Medienwissenschaftler mit dem spezifischen Forschungsinteresse der «Todesdarstellungen in audiovisuellen Medien».

Zudem hat er in akribischer Arbeit ermittelt, dass die Kamera den Ermordeten im Verlauf der Jahrzehnte immer näher gerückt ist. Wurden die Leichen in den 1970er Jahren hauptsächlich aus der Weite dargestellt, dominieren heute Aufnahmen, die nahe oder sogar bis ins Detail gehen. «Es gibt überhaupt nichts Schöneres, als morgens um neun mit dem Kugelschreiber im Schädel eines Teenagers rumzustochern.», meint Kommissar Leitmayr in einer Folge – was in den 1980er Jahren noch in Splatterfilmen stattfand, gönnt man sich heute am Sonntagabend, verpackt als Gesellschaftsanalyse.

Und das bleibt hoffentlich noch eine Weile so.

Zurück zur Startseite