Missbrauchsfall So stellte der «Tatort» den Zuschauer vor ein moralisches Dilemma

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10.3.2019

Der vierte Schwarzwald-«Tatort» erzählte von einer Amour fou. Vielen Zuschauern bereitete der Film Kopfzerbrechen: Wurde man durchs Zusehen zum Komplizen eines Mannes, der eine Minderjährige in seiner (sexuellen) Gewalt hatte?

Der jüngste Schwarzwald-«Tatort» war ein besonderer Fall. Gleich zu Beginn machte «Für immer und dich» den Zuschauer zum Komplizen eines ungleichen Liebespaares auf der Flucht. Wollte oder sollte man sich etwa mit jenem reiferen Mann und «seinem» sehr jungen Mädchen identifizieren? Durfte man hoffen, dass die beiden entkommen und dann irgendwie alles gut wird? Wie bei «Bonnie und Clyde» oder «Sailor und Lula» aus David Lynchs Filmklassiker «Wild At Heart» war klar: Die Sache würde nicht gut ausgehen.

Was war geschehen?

Ein Lob den Verantwortlichen! Fast so, als wäre man im Kino, muteten die Macher dieses «Tatorts» ihrem Millionenpublikum ein Gefühl der Ambivalenz zu. Man wusste nämlich nicht, in welcher Beziehung der reifere Typ am Steuer (Andreas Lust) und ein offenbar sehr junges Mädchen (Meira Durand) auf dem Beifahrersitz zueinander standen. Waren die Blicke und Gesten nicht ein wenig zu sexuell aufgeladen für Vater und Tochter? Bald wurde das Duo mit Hund in einen Unfall mit Todesfolge verwickelt. Ein jugendlicher Dieb, den der Mann verfolgte, kam ums Leben. Als die Kommissare Tobler (Eva Löbau) und Berg (Hans-Jochen Wagner) sich der Sache annahmen, wurde klar: Das junge Mädchen war eine vermisste und gerade 15-Jährige, die ihrer Familie vor anderthalb Jahren den Rücken gekehrt hatte. Vielleicht freiwillig, vielleicht verführt. Auf jeden Fall aber mit verdammt viel «fou» in der «amour».

Warum fesselte dieser «Tatort»?

Das kluge Drehbuch des zweifachen Grimme-Preisträgers Magnus Vattrodt bediente sich eines alten Filmtricks: Der Zuschauer war so nah dran am flüchtenden «verbotenen» Paar, dass er zum emotionalen Komplizen wurde. Wie immer in solchen Filmen – wenn sie gut gespielt und inszeniert sind wie dieser – bedeutet dies auch, dass man mit Figuren leidet und hofft, die eigentlich schlimme Dinge tun. Mit der Zeit wurde das Mädchen, das eine neue Freiheit ausserhalb ihres illegalen Abenteuer-Papis suchte, zum Opfer, während der Mann mit sexueller Übergriffigkeit sich als «Täter» entpuppte. Trotzdem, und das war das perfide am «Tatort», hoffte man ein bisschen mit ihm, dass die Flucht in ein besseres Leben gelänge. Genau das machte den Film so brillant – aber auch in seiner Beurteilung prekär.

Wer waren die beiden tollen Darsteller?

Die zwei unverbrauchten, fast beängstigend authentisch spielenden Episodenhauptdarsteller machten 50 Prozent der Faszination dieses «Tatorts» aus. Regisseurin Julia von Heinz («Katharina Luther») suchte die 18-jährige Meira Durand für die Rolle der im Film 15-jährigen Emily aus. Durand spielte zuvor in einigen Kinderfilmen. Ihr bisher grösster Part: Titelheldin des Kinofilms «Hier kommt Lola!» (2010). Der Österreicher Andreas Lust (51) zählt hingegen zu den geachteten Charakterdarstellern seines Landes. Trotzdem ist er immer noch ein bisschen Geheimtipp. Lusts grösste Erfolge: der bösartig-geniale Thriller «Revanche» von Götz Spielmann, der 2009 als österreichischer Beitrag für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert war, sowie der Kriminalfilm «Der Räuber», 2010 mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet.

Wann ist Sex mit Minderjährigen strafbar?

Im «Tatort» nimmt der erwachsene Mann die 13-jährige Emily mit sich «auf Reisen». Anfangs wohl mit dem Einverständnis seines Opfers, das eine Flucht aus seinem familiären Alltag suchte. Der Film lässt offen, ob es damals schon zu sexuellen Handlungen kam. Der Zuschauer lernt Emily erst kurz nach ihrem 15. Geburtstag kennen. Die Gesetzeslage für jüngere Kinder ist eindeutig: In Deutschland, wo dieser «Tatort» spielt, ist Sex mit Kindern unter 14 Jahren ausnahmslos verboten und strafbar. Komplizierter wird es danach. 14- und 15-jährige Jugendliche dürfen freiwilligen Sex haben, wenn ihr Partner nicht älter als 21 Jahre ist und in keinem Schutzbefohlenen-Verhältnis zum Jugendlichen steht, zum Beispiel als Lehrer oder Trainer.

In der Schweiz liegt das Schutzalter generell bei 16 Jahren. Aber auch Jüngere dürfen Sex miteinander haben: «Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt», bestimmt Art. 187 Schweizerisches Strafgesetzbuch.

Von wem stammten die Songs?

Bereits der Titel des Krimis, «Für immer und dich», ist der Name eines Stückes von Rio Reiser, das auch am Ende dieses «Amour fou»-Films zu hören ist. Das Stück des kultisch verehrten Sängers der deutschen Polit-Sponti-Band «Ton Steine Scherben» (1970 bis 1985) stammt jedoch von dessen Soloalbums «Rio I.», das 1986 erschien und neben der berührenden Ballade «Für immer und dich» auch den Charts-Hit «König von Deutschlands» enthielt. Dieser Radio-Evergreen kommt ebenfalls im Film vor – als der flüchtende Mann ihn in einem seiner fiebrig optimistischen Momente lauthals zum Autoradio mitsingt. So werden auch etwas angestaubte Pop-Hits plötzlich wieder zur heissen Ware.

Der «Tatort: Für immer und dich» lief am Sonntag, 10. März, 20.05 Uhr, auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

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