Kritik «Victim Number 8»: Eine Serie – zwei Meinungen

Carlotta Henggeler und Fabian Tschamper

11.9.2019

Ist Omar (César Mateo) ein harmloser Secondo oder doch ein Terrorist? Darum dreht sich der Netflix-Thriller «Victim Number 8».
Ist Omar (César Mateo) ein harmloser Secondo oder doch ein Terrorist? Darum dreht sich der Netflix-Thriller «Victim Number 8».
Youtube/Netflix

Dies ist der Start der neuen Kolumne: Eine Serie – zwei Meinungen. Im Dschungel aktueller Serien und Filme pickt «Bluewin» eine Neuerscheinung heraus und mikroskopiert sie. Heute: «Victim Number 8», ein mehrteiliger spanischer Netflix-Thriller.

Zig Fernsehkanäle, abonnierte Streaming-Dienste und Kino-Premieren: Die tägliche Auswahl an neuen Filmvergnüngen ist schier unermesslich. Deshalb wird «Bluewin» in «Eine Serie – zwei Meinungen» alle 14 Tage eine Neuerscheinung analysieren. Heute auf dem Seziertisch: «Victim Number 8».

Soll man den hiberischen Terroristen-Thriller unbedingt schauen oder lieber weiterzappen? 

Carlotta Henggeler: Besser als eine Rauchmandel

Mit einer neuen TV-Serie ist es wie mit einer Weinflasche oder einem Buch: Das Etikett oder der Titel springen als Erstes ins Auge. Und weil der Originaltitel «La victima numero ocho» so wohlklingend temperamentvoll daherkommt, glustet mich die brandneue Netflix-Produktion sofort.

Der Thriller spielt im Herzen der baskischen Stadt Bilbao – für mich ebenfalls ein Volltreffer. Zählt Bilbao doch zu meinen Top-3-Lieblingsdestinationen Europas (nach Berlin und Rom). Die Stadt, mit dem majestätischen Guggenheim-Bau im Zentrum. Last but not least: Die Geschichte basiert auf einer wahren Geschichte, jenen Terror-Anschlägen von Barcelona, als Touristen auf den Ramblas ins Visier eines Amokfahrers gerieten.

Die Geschichte beginnt romantisch mit einer jungen Liebe zwischen Edurne, einer bildhübschen Krankenschwester, und Omar, einem Einwanderer Sie schmieden Zukunftspläne. Doch als Edurne Omar ihren Eltern endlich vorstellen will, ist er spurlos verschwunden. Zeitgleich wird in Bilbao ein Attentat verübt. Die Polizei geht davon aus, dass Omar der Drahtzieher ist. Der arabische Secondo soll einen Transporter gemietet haben und damit in eine Menschenmenge gerast sein. Edurne bricht zusammen, ihre Welt steht Kopf. Nicht nur ihre. Auch Omars Eltern können es nicht glauben. Wurde ihr Sohn hinter ihrem Rücken radikalisiert – und von wem?

Es beginnt eine Hetzjagd auf Omar. Die hochschwangere Kommissarin Koro Olaegi will den Terroristen erwischen. Sie will wissen: Agierte er alleine? Hatte er Komplizen und sind eventuell weitere Attentate in Bilbao geplant? Beim Anschlag kommt auch der illustre baskische Geschäftsmann Gorka Azkarate ums Leben. Seine Familie setzt ein saftiges Kopfgeld aus. Die Hetzjagd auf Omar beginnt.

«Victim Number 8» ist wie eine Rauchmandel. Eigentlich will man nur eine essen – und zack ist die Tüte leer. Bei der spanischen Serie ist es ähnlich, man will nur kurz eine Episode wie zum Vorgeschmack angucken – und schon hat man die ganze Staffel gesehen. Denn der baskische Thriller hat von Anfang an viel Drive, die Handlungsstränge sind geschickt verwebt, die Schauspieler überzeugen. Allen voran die kauzige Knallhart-Kommissarin Oleagi. 

Keine Angst, es folgt kein Spoiler. Eigentlich ist «Victim Number 8» sogar viel besser als eine Rauchmandel – denn man hat länger etwas davon.

Fabian Tschamper: Der Teufel steckt im Detail

Zwei Jahre nach dem Anschlag eines Amokfahrers in Barcelona hat Spanien eine Serie kreiert, die mehr oder weniger auf den damaligen Gegebenheiten basiert. Da sich eine eins-zu-eins-Adaption in einem solchen Fall nicht anbietet, haben die Schreiber mehrere fiktive Handlungsstränge entwickelt. Das klingt mitunter gut, funktioniert in der Praxis aber nur bedingt.

Die Stränge sind ohne Frage spannend, der Teufel steckt allerdings wieder einmal im Detail: Krankenschwester Edurne, die Freundin des mutmasslichen Attentäters, kann laut Polizeichefin Koro Olaegi nicht aufgespürt werden. Dies obwohl sie sie auf ihrem Handy angerufen hat, Edurne legte nur kurz darauf auf. Weiter verlauten die Polizeibeamten dann, dass Edurne nicht lokalisiert werden könne, da ihr Handy ausgeschaltet zu sein scheint. Zwei Szenen später sieht der Zuschauer jedoch die Krankenschwester, wie sie an ihrem sehr wohl eingeschalteten Handy-Bilder von sich und ihrem gesuchten Freund Omar löscht.

Dies ist nur ein Beispiel von mehreren Lücken in der Logik von «Victim Number 8». Für eine Serie, die grösstenteils Polizeiarbeit in den Blickpunkt stellt, ist das ungenügend.

Doch wer schelten kann, der kann auch loben. Die meisten Protagonisten überzeugen schauspielerisch. Besonders der Darsteller Iñaki Ardanaz sticht heraus, er schlüpftin die Rolle von Gaizka, Bruder des beim Anschlag getöteten Geschäftsmanns Gorka. Erwähnenswert ist auch die korrekte und gar nicht stereotype Verbildlichung des Islams mit all seinen Traditionen und Riten.

«Victim Number 8» lohnt sich für den Krimifan, der sich nicht um Details schert. Der Haupthandlungsstrang verspricht gute Unterhaltung, selbst wenn sich die Produktion als Ganzes nicht zum heutigen Goldstandard gesellen dürfte.

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