Im Check Warum der Bremer «Tatort: Im toten Winkel» komplett freudlos und trotzdem richtig gut war

tsch

11.3.2018

Die Bremer Kommissare Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) ermittelten in der tristen Welt der häuslichen Pflege. Schmerzhafte Unterhaltung - und doch so wichtig.

Bremer «Tatorte» sind oft ein bisschen drüber. Vor allem wegen ihrer bisweilen hanebüchenen Plots. Offenbar hatte man sich bei einer der kleinsten Sendeanstalten des ARD-Verbundes immer wieder vorgenommen, grosse, gewagte Film zu drehen - was nicht immer gelang. Erstaunlich, dass den 2019 scheidenden Ermittlern Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) ausgerechnet mit einem leisen, ausgesprochen realistischen Fall einer der besten Bremer Beiträge seit Jahren gelang. Selbst wenn jene 90 Minuten «Im toten Winkel» mit Sicherheit nicht vergnügungssteuerpflichtig waren.

Was war los?

Rentner Horst Claasen (Dieter Schaad) erstickte seine schwer demenzkranke Frau mit einem Kissen. Danach wollte er sich mit Tabletten selbst umbringen, rief aber noch die Polizei an: «Können Sie bitte im Lauf des Tages vorbeikommen, um uns aus der Wohnung zu holen? Erste Etage, wir haben hier keinen Aufzug. Das sollten Sie wissen - wegen der Särge.» Claasen überlebte seinen Suizidversuch, die Kommissare Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) ermittelten. In der Mitte der diesmal erstaunlich ruhigen, ernsthaften Bremer Episode tat sich dann noch ein «richtiger» Kriminalfall auf. Pflegegutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix) wurde ermordet - und dem Zuschauer war am Ende klar: Der Pflegenotstand ist schlimmer als gedacht.

Ergab die Story Sinn?

Auch wenn die Ermordung des Pflegegutachters - Nordkomödiant Peter Heinrich Brix in einer erstaunlich ernsthaften Rolle - vielleicht ein Zugeständnis ans traditionelle Krimiformat war, die Aufbereitung eines Skandals im deutschen Gesundheitswesen vor Millionenpublikum lässt locker über solch kleine Schwächen hinwegblicken. Extrem realistisch geriet Drehbuchautorin Katrin Bühlig (Grimmepreis 2014 für ihre Dokumentation «Restrisiko» über Insassen einer forensischen Psychiatrie) hingegen ihre quälende Beschreibung der häuslichen Pflege als solche.

Worin besteht der Skandal?

Rund 2,8 Millionen Menschen, das sind drei Viertel aller Pflegefälle in Deutschland, werden daheim von ihren Angehörigen versorgt. In der Schweiz sind es zuletzt fast 340'000 Personen gewesen. Laut einer Studie von Infratest fühlen sich 42 Prozent der Pflegenden «schwer belastet», 41 Prozent sehen sich gar «extrem belastet». Zur psychischen Überforderung kommt oft finanzielle Not. Pflegende Angehörige müssen oft ihre Jobs aufgeben, um daheim für das Familienmitglied da zu sein. Das Resultat: ein Teufelskreis aus Überforderung, Armut und Verzweiflung.

Wie waren die Ermittler in Form?

«Im toten Winkel» war mit Sicherheit kein Ermittlerkrimi. Im Mittelpunkt stand die Beschreibung eines versteckten gesellschaftlichen Notstands, der keine grösseren Kreise zieht, weil die Pflegenden aus Scham, Respekt und Liebe ihr Leid nicht an die grosse Glocke hängen. Immerhin: Die bewegende Schlussszene gehörte tatsächlich Ermittlerin Lürsen und ihrer Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke). «Weisst du, wenn es bei mir mal soweit sein sollte, musst du dich nicht um mich kümmern», sagte die Kommissarin. Grosse Worte - die jedoch von der Tochter getoppt wurden: «Wir kommen von unseren Eltern und wir kehren im Alter zu ihnen zurück. Ganz egal, was war. Wir sollten dankbar sein.»

Wer hatte in diesem Krimi den stärksten Auftritt?

Beispielhaft wurden «Im toten Winkel» andere Pflegefälle aus der grausamen Intimität der häuslichen vier Wände ins Licht der «Tatort»-Primetime gezerrt. Darunter auch der von Akke Jansen (Dörte Lyssewski), die mit ihrer schwer demenzkranken Mutter (Hiltrud Hauschke) die Hölle auf Erden erlebt. Selten sieht man im Fernsehen eine derart beklemmend gute schauspielerische Leistung. Dörte Lyssewski, Jahrgang 1966 und privat übrigens die Partnerin von Ernst Stötzner, gilt als eine der renommiertesten Bühnenschauspielerinnen Deutschlands. Seit neun Jahren ist sie Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Hiltrud Hauschke, geboren 1942, ist eigentlich ausgebildete Tänzerin und Pantomimin. In Film und Fernsehen sah man sie über ihre gesamte Karriere nur sporadisch.

Wer führte Regie?

Der 1982 geborene Regisseur Philip Koch stand bisher für spektakulär anzusehendes Kino und Fernsehen. Sein Gangsterdrama «Picco» (2010) gewann viele Preise, zuletzt inszenierte der gebürtige Münchener in seiner Heimatstadt die «Tatort»-Episoden «Der Tod ist unser ganzes Leben» sowie «Hardcore». Bei seinem Bremen-Ausflug blieb Koch nun leise im Hintergrund und gab stattdessen seinen Schauspielern viel Raum.

Wie gut war der «Tatort»?

Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Spass machte dieser Film nicht. Wer sich am Sonntagabend bei einer den Alltag vergessen machenden Mörderhatz entspannen wollte, wird bei den quälend langen Szenen häuslicher Pflege wohl geflucht oder sogar abgeschaltet haben. Tatsächlich war der Krimi auch filmisch nüchtern bis unspektakulär. Dafür gab es einen Grund: Der Film sollte ein möglichst realistisches Mahnmal für die Arbeit und das Leid pflegender Angehöriger sein. Ein wichtiges Ziel, von dem eine reisserische Inszenierung abgelenkt hätte. «Im toten Winkel» war ein «Tatort», der nachwirkt. Was man von nicht allzu vielen Krimi-Produkten aus dem Bremen der letzten Jahre behaupten kann. 

Der neuste «Tatort» lief am Sonntag, 11. März, um 20.05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

Nichts für schwache Nerven: Die bizarrsten Leichenfunde beim «Tatort»
Top 20: Das sind die beliebtesten «Tatort»-Teams der Schweizer
Zurück zur Startseite