Frankreichs Prunkstück an dieser EM ist die Defensive. Was überrascht, weil Trainer Didier Deschamps einem Quartett vertraut, das vor dem Turnier noch nie zusammengespielt hatte.
Wie viele Tore aus dem Spiel heraus muss ein Team schiessen, um sich für die Halbfinals einer Europameisterschaft zu qualifizieren? Gilt Frankreich in dieser Hinsicht als Massstab, ist die Antwort so simpel wie erstaunlich: 0. Gegen Österreich und Belgien entschied ein Eigentor des Gegners die Partie, gegen Polen erzielte Kylian Mbappé seinen ersten Treffer an einer EM vom Penaltypunkt aus, und die Spiele gegen die Niederlande und Portugal im Viertelfinal endeten torlos, sodass ein Penaltyschiessen die Entscheidung bringen musste.
Für regelmässige Beobachtende mindestens genauso erstaunlich ist jedoch, dass auch auf der anderen Seite nach wie vor die 0 steht: Das einzige Gegentor, das die Equipe tricolore an diesem Turnier bisher kassiert hat, fiel im letzten Gruppenspiel gegen Polen (1:1). Der Penaltytreffer von Robert Lewandowski kostete die Franzosen zwar den Gruppensieg, zum jetzigen Zeitpunkt ist dies aber nur noch eine unbedeutende Randnotiz.
Schwierige Saisons in den Klubs
Die defensive Stabilität der französischen Hintermannschaft überrascht deshalb, weil Trainer Didier Deschamps in Deutschland einem Quartett vertraut, das er davor noch nie in dieser Zusammensetzung aufs Feld beordert hat. Jules Koundé verteidigt auf rechts, Dayot Upamecano und William Saliba bilden das Zentrum, und auf links ist Théo Hernandez aufgestellt.
In der Vorbereitung auf die EM hatte Deschamps, wie es in der Natur dieser Phase liegt, einige Sachen ausprobiert. Mal liess er Benjamin Pavard auflaufen, mal Jonathan Clauss, mal Ibrahima Konaté. Doch sobald es ernst galt, hörte der 55-Jährige auf mit den Experimenten. Und verhalf seinem Team so zu einer defensiven Stabilität, die es den Gegnern schwer macht, überhaupt ein Tor zu erzielen.
«Die Anatomie einer Mauer» titelte die Fachzeitung «L’Equipe» in ihrem Podcast «Big Five» und zeigte sich ebenso erstaunt darüber, wie gut die Defensivarbeit des französischen Nationalteams funktioniert. Denn schliesslich hätten Upamecano, der seinen Stammplatz bei Bayern München zwischenzeitlich verlor, Koundé, der sich bei Barcelona mit Verletzungen herumschlug, und Goalie Mike Maignan, der immer wieder Probleme mit den Adduktoren hatte und sich weniger als einen Monat vor der EM im Training mit der AC Milan den kleinen Finger der linken Hand ausrenkte, keine einfache Saison gehabt.
Überragender Abwehrchef Saliba
Die grösste Überraschung in den Augen der «L’Equipe» ist aber William Saliba. Der 23-Jährige war vor dem Turnier im Nationalteam selten gesetzt, nun ist der Akteur von Arsenal zum unbestrittenen Abwehrchef aufgestiegen. «Saliba war bisher monströs», urteilen die französischen Fachleute und mutmassen, dass er dank seiner Schnelligkeit und Zweikampfstärke bisher zu den drei besten Verteidigern des gesamten Turniers gehört habe – mindestens.
«Defense avant tout» ist das Credo, das Deschamps seinen Spielern auf den Weg gibt. Ergo müssen alle Spieler, auch die eigentlichen Offensiven, als allererstes ans Verteidigen denken. Es ist eine Ausrichtung, für die der Nationaltrainer regelmässig Kritik einstecken muss. Denn schliesslich stehen vorab mit Kylian Mbappé, Ousmane Dembélé, Antoine Griezmann, Marcus Thuram und Rekordtorschütze Olivier Giroud auch herausragende Offensivspieler im Kader.
Aber der Erfolg gibt Deschamps recht. Schliesslich hat er «Les Bleus» zweimal in Folge in einen WM-Final, 2018 zum Titel, und 2016 in den EM-Final geführt. «So spielen wir, und wir sind im Halbfinal. Wenn jemand damit nicht zufrieden ist, ist das nicht unser Problem», sagt Dembélé.
Dynamischere Spanier
Allerdings kommt mit Spanien im Halbfinal von München am Dienstag (21 Uhr) ein Gegner auf Frankreich zu, der sich anders verhalten dürfte als die Teams, die bisher die Wege der Franzosen gekreuzt haben: Im Gegensatz zu den anderen dürfte Spanien mitspielen und den Gegner unter Druck setzen wollen. Dass eine mutige Ausrichtung zum Erfolg führen kann, haben gerade die Portugiesen in Ansätzen gezeigt. Gerade auf den Aussenpositionen werden Hernandez und Koundé gegen die wirbligen Lamine Yamal und Nico Williams gefordert sein. Und Alvaro Morata wird im Sturmzentrum der Spanier auch dynamischer agieren als Romelu Lukaku für die Belgier oder Cristiano Ronaldo für Portugal.
Insofern wird spannend zu beobachten sein, wie der französische Defensivverbund damit umgeht. Steht die 0 hinten auch nach den nächsten 120 Minuten, stehen die Chancen gut, dass die Reise weitergeht. Zum Final am nächsten Sonntag in Berlin.