Vincent Kriechmayr gesellt sich mit dem Speed-Double an der WM in einen illustren Kreis. Zwei Flachländer verweisen Beat Feuz auf den Bronzeplatz.
«Vertigine» tauften die Erbauer die an der WM offiziell eingeweihte Abfahrtsstrecke. Das heisst übersetzt so viel wie Schwindel, und dem einen oder anderen Fahrer wurde in den letzten Tagen tatsächlich schwindlig auf der Piste, die viel zu reden gab. Am Freitag fanden die Athleten im ersten Training eine Strecke vor, die mehr einem Riesenslalom als einer Abfahrt glich. Am Sonntag legte der Franzose Maxence Muzaton ungewollt einen Stunt hin, den ihm so schnell keiner nachmachen wird.
Muzaton übersah nach 22 Fahrsekunden bei Tempo über 100 km/h in einem Schattenloch eine Welle, verlor die Kontrolle und hob auf dem Sprung vor dem Steilhang seitlich ab, dem die Vertigine ihren Namen zu verdanken hat. Er drehte sich in der Luft um 180 Grad, schaffte es mit dem Rücken voraus irgendwie, auf den Ski zu landen, den Sturz zu vermeiden und sich zurückzudrehen. Muzaton blieb bei der Wahnsinns-Aktion unversehrt. Verrückt.
Die beste Linie ...
Bis zum Rennen am Sonntag war die zu enge Kurssetzung angepasst worden. Doch der Mittelteil blieb stark drehend. Beat Feuz sprach auch am Renntag von «Riesenslalom-ähnlichen Toren», Vincent Kriechmayr nutzte die Passage, um sich nach Super-G- auch Abfahrts-Gold zu sichern. Der Österreicher fand dort die beste Linie, zusammen mit Andreas Sander, den eine winzige Hundertstel vom Sieg trennte. Feuz büsste rund vier Zehntel ein, 18 Hundertstel betrug sein Rückstand im Ziel.
Feuz und der zeitgleich mit Marco Odermatt viertplatzierte Dominik Paris, die favorisierten «Bergler» aus Schangnau und dem Südtirol, standen in der WM-Abfahrt damit zwei Flachländer vor der Sonne. Kriechmayr wuchs auf einem Bauernhof in Gramastetten unweit von Linz auf, einer Gegend in Oberösterreich, die man vielleicht als hügelig bezeichnen kann. Sander ist Westfale, das Skifahren lernte der 31-Jährige auf einem 300 m hohen Hügel im Sauerland.
Zum Skifahren kam Kriechmayr durch den Vater, dieser war im Sommer Bauer und im Winter Skilehrer im Salzburger Land. Als Skilehrer lernte der Vater auch die Mutter kennen, eine Kunstgeschichtslehrerin aus Belgien. Daher auch der Vorname Vincent, angelehnt an den niederländischen Impressionisten Van Gogh.
Sander seinerseits zog es als Teenager in die Berge, zuerst ins Ski-Gymnasium Berchtesgaden, später nach Oberstdorf. Mit 31 Jahren weist der Familienvater 147 Weltcup-Rennen und 24 Klassierungen in den ersten zehn vor, aber noch keinen Podestplatz. Im deutschen Speed-Team stand er meist im Schatten von Thomas Dressen und Josef Ferstl, auch weil ihn 2018 ein Kreuzbandriss ausbremste. Wegen der Knieverletzung verpasste er die WM in Are. Gleiches war ihm schon 2013 im Hinblick auf die WM in Schladming widerfahren. 2020 riss er sich zudem die Syndesmosebänder an beiden Sprunggelenken, was Zwangspausen während der Vorbereitung mit sich brachte.
... und Glück
Kriechmayrs neuerlicher Triumph überraschte weniger als Sanders Silber-Coup. Der 29-Jährige gilt mit seiner Technik als Musterbeispiel, Feuz hob ihn schon vor Jahren auf die höchste Ebene. Mitunter die Nerven waren ihm an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zunächst im Weg gestanden. Erst 2019 in Are holte er seine ersten beiden WM-Medaillen.
Nun siegte Kriechmayr als erster Österreicher seit 18 Jahren in der WM-Abfahrt, obwohl er mit einem schlechten Gefühl im Ziel eingetroffen war. Für das Glück, das ihm seinem eigenen Empfinden zufolge hold war, bedankte er sich an höherer Stelle: «Der Herrgott war auf meiner Seite. Ich denke, ein paar Kollegen hatten Gegenwind.»
Windeinfluss hin oder her, der Flachländer aus Oberösterreich schaffte mit dem Speed-Double, was zuvor einzig Hermann Maier 1999 in Vail und Bode Miller 2005 in Bormio gelungen ist. «Mit den beiden vergleiche ich mich noch lange nicht. Die waren auch noch Olympia- und Gesamtweltcupsieger und weiss Gott noch was», meinte er dazu.
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