Weltmeisterschaft Warum Brasilien jetzt auch ohne Neymar auskommt

sda

28.11.2022 - 06:30

Francisco De Laurentiis ist Journalist aus São Paulo und fühlt dem brasilianischen Nationalteam seit 2013 für den Sender ESPN auf den Puls. Er erklärt, warum die Seleção die beste seit 2006 ist.

Keystone-SDA, sda

Warum sind Sie überzeugt, dass Brasilien in Katar das beste Nationalteam seit vielen Jahren hat?

Francisco De Laurentiis: «Die Mannschaft bringt alles mit: Das Kader ist sehr ausbalanciert. Es ist gut in der Defensive, gut im Mittelfeld und in der Offensive. Der Teamspirit ist ausgezeichnet und der Coach sehr erfahren. Diese Konstellation gab es an den letzten Weltmeisterschaften nicht. 2010 gewann Brasilien die Copa América und den Confederations Cup. Aber wenn ein Stammspieler ausfiel, war der Leistungsabfall gross. 2014 hatte Brasilien ein gutes Team, aber mit dem zweifelsohne verdienstvollen Luiz Felipe Scolari den schlechtesten Trainer, den man hätte haben können. 2018 befand sich die Mannschaft im Umbruch.»

An den letzten Endrunden war die Mannschaft stark von Neymar abhängig. Wie sieht es jetzt aus?

«Neymar ist natürlich immer noch der Beste, aber sein Ausfall keine Tragödie mehr. 2014 und 2018 war Brasilien schrecklich abhängig von ihm. Als er sich an der Heim-WM verletzte, gab es das 1:7 gegen Deutschland. Vier Jahre später in Russland war er nicht gut. Da fiel er vor allem dadurch auf, dass er sich ständig auf dem Boden wälzte. Jetzt hat Tite neun Stürmer dabei.»

Wo sehen Sie die Schwächen in der Mannschaft?

«Hinten auf den Seiten. Die Innenverteidiger sind sehr gut, die Torhüter exzellent. Im Mittelfeld gibt es viele gute Optionen und vorne reichlich Offensivkraft. Aber die Aussenverteidiger sind seit etwa 2010 ein Problem.»

Erklären Sie.

«Das ist eine lange Geschichte. Richtig gut war Brasilien auf den Aussenverteidiger-Positionen letztmals 2006 mit Cafu und Roberto Carlos. Seither gab es bis auf Dani Alves in dessen guten Jahren immer Bedenken. Der jetzige Rechtsverteidiger Danilo von Juventus Turin ist ein guter Spieler – gut, aber nicht exzellent. Und Alves ist auf dem Papier sein Backup. Alves war gut, ist mit seinen 39 Jahren jetzt aber eigentlich vorbei. Tite mag ihn und will ihn wahrscheinlich vor allem für die Stimmung im Team dabei haben. Spielen dürfte er nur im äussersten Notfall.»

Und links?

«Links macht Alex Sandro wohl jedes Spiel. Er spielt bei Juventus nicht wirklich gut, aber er ist trotzdem die beste Option. Es gibt einfach keine echten Alternativen. Sein Ersatz ist Alex Telles, und eigentlich gäbe es noch Renan Lodi. Lodi wäre gut, aber er bekam Probleme, weil er sich in der Pandemie nicht impfen lassen wollte. Tite konnte ihn damals nicht aufbieten, was ihm missfiel. Ausserdem spielte er im Final der Copa América schlecht. Wegen ihm konnte Angel Di Maria den Siegtreffer für Argentinien erzielen.»

Wie gross ist der Anteil von Trainer Tite an der positiven Entwicklung des Nationalteams?

«Er ist bei weitem der beste brasilianische Trainer der Gegenwart, ohne Zweifel. Leider will er künftig ein europäisches Team coachen, weshalb es wohl nur eine Ein-Prozent-Chance gibt, dass er weitermacht. Nachdem der künftige Wunschtrainer Pep Guardiola bei Manchester City bis 2025 verlängert hat, hoffen die meisten trotzdem auf einen Sinneswandel.»