Michelle Gisin ist wie vor vier Jahren Olympiasiegerin in der Kombination. Sie gewinnt ihr zweites Gold nach aufwühlenden Tagen und fordernden Monaten.
Es war das goldene Ende eines Steigerungslaufs, der perfekte Abschluss ihrer Zeit in Yanqing, in der Michelle Gisin in Bezug auf die Ergebnisse nur eine Richtung kannte: Es ging stetig aufwärts. Dem 10. Rang im Riesenslalom folgte der 6. Platz im Slalom, dann der 3. Rang im Super-G und nun, als Krönung, das zweite Gold nacheinander in der Kombination.
Die emotionale Achterbahn
Ganz anders ging es in den vergangenen zehn Tagen auf der emotionalen Seite zu und her. Das Seelenleben der Obwaldnerin fuhr Achterbahn. Der Rückfall im zweiten Durchgang des Slaloms vom 2. auf den 6. Platz war vorerst zuviel des Schlechten. Michelle Gisin kämpfte mit den Tränen, die Enttäuschung über die entgangene Medaille war gross.
Mit zeitlicher Distanz war der Blickwinkel ein anderer. «Der zweite Lauf war vielleicht zu schwierig für mich. Ich hatte Mühe mit all den Rhythmuswechseln.» Michelle Gisin begründete ihre Schwierigkeiten mit der eingeschränkten Vorbereitung. 2000 Slalom-Tore habe sie zum jetzigen Zeitpunkt absolviert. Im Normalfall seien es schon vor Saisonbeginn jeweils 10'000 Tore gewesen.
Auf das Tief folgte zwei Tage später mit dem Gewinn der Bronzemedaille im Super-G das erste Hoch. «Ich weiss selber nicht genau, wie ich das gemacht habe, dass ich es trotz zwei Fehlern im oberen Streckenteil aufs Podest geschafft habe.» Zeit zum Geniessen blieb der Vielbeschäftigten nicht viel. Es ging weiter mit den Trainings für die Abfahrt – und dem nächsten Stimmungswechsel.
Michelle Gisin war davon ausgegangen, dass sie nach ihrem starken Auftritt im Super-G auch in der Abfahrt zum Schweizer Quartett gehören würde. «Es hatte geheissen, dass nach meinem Medaillengewinn klar sei, dass ich den letzten Startplatz erhalten werde.» Es waren unglückliche Umstände, für Michelle Gisin war die Kommunikation nicht gut. Die Qualifikation wurde beibehalten. Joana Hählen fuhr im Abschlusstraining Bestzeit und wurde als vierte Schweizer Teilnehmerin nominiert.
Abfahrtstraining in Slalom-Schuhen
«Es ging mir nicht darum, wer schliesslich die Abfahrt bestritt. Es ging mir um die Art, wie das Ganze ablief. Joana hatte sich das mehr als verdient. Ich war vom Menschlichen her enttäuscht. Für mich ist respektvoller Umgang wichtig. Aber das Prozedere war nicht respektvoll.»
Unglücklich waren für Michelle Gisin auch die Umstände rund um diese Qualifikation. In der Nacht zuvor fand sie nicht den richtigen Schlaf. Störenfried war Marco Odermatt, der im kleinen Kreis seinen Olympiasieg im Riesenslalom feierte. «Dummerweise lag der Aufenthaltsraum, in der die kleine Feier stattfand, direkt neben meinem Zimmer.»
Es sollte nicht die einzige Panne bleiben am Montag. Michelle Gisin stand sprichwörtlich neben den Schuhen. Zum Abschlusstraining trat sie versehentlich mit den Slalom-Schuhen an. Den Irrtum bemerkte sie erst kurz vor dem Start – zu spät, um noch reagieren zu können. «Die Fahrt war den Umständen entsprechend noch recht gut.» Für eine Startberechtigung in der Abfahrt war sie aber zu wenig gut.
Weitere drei Tage später kam die Kombination – und mit ihr die neuerliche Wende zum Guten, obwohl sich der Tag nicht sehr gut angelassen hatte, die Abfahrt nicht plangemäss verlaufen war. Der Fehler in einer der obersten Streckenpassagen sollte am Ende aber nur noch eine Randnotiz sein.
Die Angst um die Gesundheit
Nach dem zweiten Olympiasieg in der Kombination stand für Michelle Gisin selbstredend der (Glücks-)Moment im Vordergrund. Sie fand dennoch Zeit für Gedanken an die Vergangenheit, an den vergangenen Sommer, als sie am Pfeifferschen Drüsenfieber litt, als sie, wie sie es selber nannte, ein «halblebendiges Elend» war.
«Ich hatte alles versucht, dass es besser wird. Aber es ging nicht», blickte die Obwaldnerin auf die sehr schwierige Phase zurück, in der sie selbst für die geringste körperliche Belastung zu schwach war. «Es war ganz heftig. Ich hatte sogar Angst, nicht mehr gesund zu werden.»
Michelle Gisin hatte im Wortsinn den Weg der kleinen Schritt zu gehen. Sie kämpfte sich von ganz unten wieder nach oben. Die Gesundung schritt besser voran als gedacht. Sie war schon im Riesenslalom Ende Oktober in Sölden wieder am Start. Das Fernziel «Olympische Spiele in Peking» nahm bald konkrete Formen an. Sie war auch nach diesem Steigerungslauf eine Siegerin.