Ernährungspsychologin über Social Media «Das geht mir auf den Sender»

Von Sulamith Ehrensperger

19.7.2021

Die meisten Ernährungsposts in sozialen Medien basieren auf Erfahrungswissen. Welchen Einfluss haben sie auf unser Ernährungsverhalten?
Die meisten Ernährungsposts in sozialen Medien basieren auf Erfahrungswissen. Welchen Einfluss haben sie auf unser Ernährungsverhalten?
Bild: Getty Images

Waren früher TV-Köche und Zeitschriften erste Anlaufstelle, sind es heute die Food-Influencer. Soziale Medien sind Inspiration, Unterhaltung, Rezeptsammlung und vieles mehr. Das birgt Chancen und Risiken.

Von Sulamith Ehrensperger

19.7.2021

Frau Schiftan, seit mehreren Jahren beobachten Sie die Rolle von Influencerinnen und Influencern rund um Ernährungsthemen. Was passiert in den sozialen Netzwerken gerade?

Wir beobachten schon länger zwei grosse Trends: vegane und fitnessbezogene Ernährung. Vor allem junge Menschen schauen bei Influencerinnen und Influencern ab, lassen sich beraten, sich Ernährungspläne und Esstipps geben. Für viele werden sie ein Vorbild. Allerdings haben die meisten dieser Influencerinnen und Influencer keinen ernährungswissenschaftlichen Hintergrund, sondern sie beziehen sich auf ihr Erfahrungswissen. Je mehr Follower sie haben, desto mehr erlangen sie in den Augen ihrer Abonnenten jedoch Expertenstatus.

Wie können soziale Netzwerke unser Ernährungsverhalten beeinflussen?

Es ist noch nicht vieles erforscht in diesem Bereich. Die Forschung weiss inzwischen, dass die Exposition von idealisierten Körpern die Körperzufriedenheit beeinflussen oder im Extremen zu einer gestörten Selbstwahrnehmung führen kann. Plötzlich findest du dich selber grusig, weil du immer bearbeitete Bilder siehst. Wenn du nicht weisst, wie reale Haut wirklich aussieht, musst du Hautfalten ja komisch finden. Im Spiegel siehst du die Realität und damit die Diskrepanz zu bearbeiteten oder inszenierten Fotos. Auf Social Media wird immer perfekt gegessen, gereist, aufgeräumt, trainiert und rund um die Uhr schön ausgesehen. Wir lernen durch Bilder. Je mehr du von der gleichen Art siehst, desto mehr begreifst du das als Norm. Das kann mit der Zeit eine Unzufriedenheit mit dem Körper, dem Aussehen oder dem eigenen Leben generieren.

Zur Person: Ronia Schiftan
Ronia Schiftan Psychologin Bern
zVg

Ronia Schiftan, MSc Angewandte Psychologie und Ernährungspsychologin ZEP, ist Angebotsleiterin «Digital-Projekte» bei der Fachstelle PEP (Prävention Essstörung Praxisnah) und freischaffende Psychologin und Mitinhaberin der Externas GmbH. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind der Einfluss der sozialen Medien auf das Gesundheitsverhalten, Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen und dem Essverhalten sowie psychische Gesundheit in der Zeit rund um das neue Coronavirus: Dureschnufe.ch.

Ich gebe zu, mich macht das Scrollen durch Foodblogs und -Posts schlicht hungrig.

Das tut es. Die Exposition von Bildern, die Essen zeigen, können Appetit machen. Das ist nachvollziehbar, schliesslich fördert das Anschauen von Rezeptbüchern auch Lust auf Essen. Im Unterschied dazu konsumieren wir Social Media oft passiv, wir scrollen durch und das, was wir sehen, verarbeiten wir nicht aufmerksam. Die kritische Wächterin, die ist dann am Schlafen. Das heisst, man konsumiert passiv enorm viel Inhalt und damit auch viel implizit.

Warum posten wir eigentlich immer Essen?

Das Essen ist ein ganz wichtiges soziales Miteinander: Schau, was ich esse, und was isst du? Auch sonst reden wir viel übers Essen. Der Wunsch, in Gesellschaft zu essen, und nicht allein, hat etwas Ursprüngliches und hilft gegen Einsamkeit.

Ob XXL-Pizza, fancy Kaffeegetränke oder Rainbow Bowls in allen Farben: Bei Social Media geht es nicht nur ums Konsumieren, sondern auch ums Zuschauen. Was macht das mit uns?

Social Media bedeutet, dass die ganze Zeit sehr viele Leute anwesend sind. Du bist immer in einem sozialen Kontext, es gibt unaufhörlich Interaktion und soziales Rating. Je nachdem, was du von dir zeigst, wirst du anders bewertet. Mehr Likes oder weniger Likes sind die Währung in den sozialen Medien. Und das kann viel mit dem Selbstbild machen. Wir Menschen suchen nach diesem magischen Schlüssel für unser Wohlbefinden. Dieser ist aber nicht in Extremen zu finden, sondern in der Balance. Doch genau das ist in der Social-Media-Welt zu wenig sexy.

In sozialen Netzwerken wird ja auch gern mit Extremen und grossen Portionen geblufft.

Diese sind ebenfalls ein Kommunikationsmittel, beispielsweise eine Männergrillparty mit möglichst viel Fleisch. Solche Stereotypen werden gern kommuniziert. Und das, obwohl wahrscheinlich die einzelnen Männer nicht halb so viel Fleisch essen würden, aber zusammen ist das cool. Auch ums Thema Comfort Food, also Pizza, Pasta, Lasagne und so weiter, wird viel gepostet. Social Media zeigt das Riesenspektrum unserer Gesellschaft: einerseits hedonistisch, dem Lustprinzip frönend, andererseits möglichst gesund, manchmal schon fast orthorektisch.

Wie können uns Ernährungsblogs positiv beeinflussen?

Posts und Videos rund ums Essen können uns inspirieren – und das ist wertvoll. Während der Phase des Lockdowns haben plötzlich alle Bananenbrot oder Sauerteig ausprobiert. Das Austauschen von Erfahrungen kann auch die Kochkompetenz steigern. Ich habe kürzlich bei Youtube nachgesehen, wie ich einen Granatapfel zubereiten kann, ohne dass danach die Küche rot eingefärbt ist. Man kann sogar sagen: Foodporn ist eine inspirierende Seite von Social Media.



Woran erkenne ich positive Blogs und Posts?

Empfehlenswert ist sicher zu schauen, was sind das für Menschen, die diesen Content verfassen. Welchen Hintergrund bringen sie mit? Was machen sie im Leben? Wissen sie, was sie erzählen und woher holen sie die Infos? Ebenso wichtig ist, wie sie mit Quellenangaben und Aussagen umgehen. «Ich habe das mal in einer Studie gelesen», «Es ist wissenschaftlich belegt» oder «Ich habe mal gelesen» ohne Quellenangabe sind Floskeln ohne Nachweise, da wäre ich erst mal skeptisch. Ebenso wenn Extreme vermittelt werden, zum Beispiel: «Ich ernähre mich nur noch von Rüebli.» Dann besser Finger weg.

Manche abonnieren extreme Profile vielleicht, um sich selbst anzuspornen.

Ich finde es ganz wichtig, dass wir uns fragen: Tut mir diese Person gut? Oder stresst sie mich, wenn sie ständig so perfekt tut. Bei solchen Gefühlen würde ich es sein lassen und entfollowen. An einer Party willst du auch nicht mit Leuten zusammen sein, die nerven. Das Gleiche gilt für soziale Netzwerke: Verfolge Leute, die guttun, dich weiterbringen und Botschaften vermitteln, mit denen du etwas anfangen kannst.

Welche Botschaften nerven Sie persönlich am meisten?

Dass Kohlenhydrate böse seien oder der Superfood-Hype geht mir echt auf den Sender. Ebenso «Zucker ist Gift» – dort geht es gar nicht darum zu diskutieren, ob Zucker jetzt gut ist oder nicht. Es geht um Extreme. Ernährungsformen, die auf etwas derart stark verzichten, suggerieren, dass man etwas bewusst nicht isst, das man gern hätte. Ich bin keine Freundin von radikalen Massnahmen. Daher Zuckerkonsum reduzieren: absolut! Mehr Gemüse essen: absolut! Aber nur Gemüse essen: nein!

Katapultiert man sich mit extremen Ernährungsformen nicht ins gesellschaftliche Aus?

Beim Essen geht es ums gesellschaftliche Miteinander. Ich glaube, es braucht einen nüchternen, positiven und entspannten Umgang rund um das Essen. Dasselbe gilt auch beim Konsumieren von Social Media.