Kinder und das Corona-Jahr «Die äussere Verrücktheit greift in den Körper über»

Von Sulamith Ehrensperger

4.3.2021

Kinderärzte und Psychologen beobachten eine Zunahme der körperlichen und seelischen Beschwerden durch die anhaltende Corona-Krise.
Kinderärzte und Psychologen beobachten eine Zunahme der körperlichen und seelischen Beschwerden durch die anhaltende Corona-Krise.
Bild: Getty Images

Die Corona-Krise führt viele Kinder an ihre Grenzen. Das macht sich auch körperlich bemerkbar. Das Gespräch mit Kurt Mosetter über Tic-Störungen, Ampelmenüs und das Grimasseschneiden.

Der Arzt und Therapeut Kurt Mosetter ist Gründer der Myoreflextherapie, eine alternativmedizinische Behandlung gegen Funktionsstörungen des Bewegungsapparates. Auch widmet er sich schon seit Jahren Verhaltensauffälligkeiten und Besonderheiten in der Entwicklung von Kindern. 

Kurt Mosetter, viele Kinder reagieren zunehmend auf die Daueranspannung infolge der Corona-Krise. Was beobachten Sie?

Nicht nur ich, auch viele Kinderärzte oder Praxisniederlassungen behandeln mehr Kinder mit Tics, manche auch mit beginnendem Tourette-Syndrom, mit Kopfschmerzen oder Migräne, Bauchschmerzen und sogar mit Ohnmachtsanfällen. Ich habe Kinder gesehen, die am Morgen nicht mehr aufstehen wollen, sich bleischwer und dauermüde fühlen und zwei Kinder, die plötzlich gelähmte Beine hatten. Viele Kinder haben Ängste – die Angst, sie könnten Mami, Papi oder die Grosseltern mit dem Virus anstecken. Man sieht, wie gross die Not ist.

«Fast jeder dritte Schüler berichtet von chronischen Schmerzen.»

Machen Sie sich Sorgen?

Das ‹Deutsche Ärzteblatt› hat gerade erst eine Studie über die ‹Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der Covid-19-Pandemie› veröffentlicht. Das ist schon kritisch. Also: Vier von fünf Kindern empfinden die Pandemie subjektiv als äusserst belastend. Sieben von zehn Kindern geben in der zweiten Befragung eine geminderte Lebensqualität an. Und drei von zehn Kindern leiden unter psychischen Auffälligkeiten. Inwieweit das 1:1 mit Corona zusammenhängt, ist natürlich nicht immer klar. Aber die Daten sollten uns aufmerken lassen! Fast jeder dritte Schüler berichtet auch von chronischen Schmerzen

Forscher haben herausgefunden, dass Kinder auch körperliche Reaktionen zeigen, wenn ihre Eltern versuchen, Stress vor ihnen zu verbergen. Wie sehen typische Stressreaktionen bei Kindern aus?

Auf Stress und Anspannung reagieren Kinder und Jugendliche ganz unterschiedlich. Die einen reagieren mit Unruhe, Gereiztheit oder Aggression, andere machen den Schirm zu, gehen in eine Passivität, entwickeln Ängste. Auch ein auffälliges Essverhalten kann ein Ausdruck von Stress sein. Es gibt Kinder, die essen zu viel, oftmals versuchen sie sich mit Essen zu beruhigen, andere wiederum essen nichts mehr. Wir beobachten in der Praxis, dass Verhaltensauffälligkeiten zugenommen haben. Die äussere Verrücktheit greift sozusagen in den Körper über.

Zur Person: Kurt Mosetter
Kurt Mosetter , Portrait, Gründer Myoreflextherapie, Sportarzt, Arzt
Markus Gilliar/GES

Kurt Mosetter leitet das Zentrum für interdisziplinäre Therapie (ZiT) in Konstanz, Gutach im Schwarzwald und Freiburg im Breisgau. Er entwickelte in den späten 80er Jahren das Konzept der Myoreflextherapie, eine Behandlung bei Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungsapparates. Er war unter Jürgen Klinsmann Teamarzt der US-Nationalmannschaft und baute mit Ralf Rangnick die medizinische Abteilung beim Fussball- Bundesligaclub RB Leipzig auf.

Sie behandeln sehr viel mehr Kinder mit Tic-Störungen, etwa Blinzeln, Augenrollen, Grimassen oder Schulterzucken. Sind Tics ein typisches Zeichen von Stress?

Stress kann Tics verstärken. Der monatelange Corona-Stress staut sich an und bleibt im Körper stecken. Tic-Störungen sind verselbstständigte Bewegungsmuster und erste Formen von einem Ungleichgewicht in der Bewegungsmelodie. Wenn die Tics sich verstärken, zuckt möglicherweise irgendwann die ganze Körperhälfte. Die Betroffenen versuchen damit, eine Spannung loszuwerden. Behandeln lässt sich dies über die Muskeln, indem man den Körper entspannt und entstresst.

Stubenhocken und langes Fernsehen tragen weniger zur Entspannung bei, als viele meinen. Wie können wir selber diesen Körperstress reduzieren?

Wenn man Stress erlebt, nimmt man eine Schutzhaltung ein, friert ein, das ist ein Grundprinzip aus der Evolution. Es ist wichtig, dass der Körper zwischendurch eine Pause von der Anspannung erhält. Mit Bewegung an der frischen Luft und Übungen, die man selber zu Hause machen kann, können wir die Muskeln entstressen. Beispielsweise mit Kraft in der Dehnung (KiD). Das sind Kräftigungen aus Dehnungspositionen heraus gegen Widerstand – zum Beispiel gegen einen Türrahmen oder die Hände eines Gegenübers. Das Dehnen löst Verspannungen und Muskelverkürzungen durch einseitige Belastungen und leitet zu einem achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper an.

Wie sehen solche Übungen aus?

Durch Atem-, Tast- und Dehnübungen lernen die Kinder, Anspannungen und Verspannungen zu lösen und die Muskulatur zu kräftigen. Wir leiten die Übungen spielerisch an: Grimassen schneiden, Unterkiefer vorschieben oder hin und her, Drohgebärden machen oder den ‹Stillen Gesang›, die Zunge weit rausstrecken. Das machen die Kinder total gern. Wird der Kiefer ‹entstresst›, wirkt sich das positiv auf den ganzen Körper aus. Auch Kräftigen, Dehnen, Lockern und Mobilisieren des gesamten Körpers gehören dazu. Etwa sich wie eine Katze strecken, wenn man lange vor den Hausaufgaben gesessen hat. Wir haben KiD auch den Lehrern weitergegeben, und viele Kinder motivieren ihre Eltern mitzumachen. Wichtig ist nicht allein die Anzahl der Übungen, sondern die Regelmässigkeit, am besten morgens und abends wie das Zähneputzen.

Essen macht glücklich und hilft, Stress abzubauen, heisst es. Wie gelingt das leichter?

Auch die richtige Ernährung kann beruhigend wirken. Je natürlicher das Essen, umso leichter hat es der Darm. Wir haben ein Ampelsystem entwickelt, den Glycoplan . Dort kann man schnell erkennen, was hilfreich ist und was eher nicht aufs Menü sollte. Grün heisst empfehlenswert: viel Grünzeug, Kräuter und Gemüse am besten frisch und regional zubereitet. Dazu gehören auch Ballaststoffe wie Hülsenfrüchte, Kichererbsen, schwarzer und roter Reis, Amaranth oder Quinoa. Gelb bedeutet gelegentlich in Ordnung und rot ist zu meiden. Zucker, Weissmehl, Pizza, Nudeln, Brot, Süssgetränke und Früchte mit einem hohen Glucose-Anteil sollten stark reduziert werden. Weg mit ‹schlechten›, also ‹roten› Kohlenhydraten, – dies gilt vor allen Dingen nach 18 Uhr. Die Idee ist nicht eine Diät, sondern dass Kinder mit den Farben spielen können.

«Kinder sind weniger vorbelastet als wir Erwachsenen.»

Nicht nur beim Essen, auch sonst sind wir Eltern für Kinder wichtige Vorbilder. Meiner Tochter zeige ich manchmal, was mir bei Stress hilft. Allerdings habe ich das Gefühl, dass sie sich schneller von Stresssituationen erholt als ich.

Kinder sind weniger vorbelastet als wir Erwachsenen und erholen sich in der Regel schneller von Krisen. Die Pandemie hat uns und unsere Körper in eine Schieflage gebracht, uns immobil gemacht. Damit dies nicht in einer Krankheit endet, ist es wichtig, dieses Ungleichgewicht zu überwinden, indem wir in Bewegung bleiben und den Kindern Hoffnung zusprechen. Dann werden sie sich erholen, wieder rennen und vor Lebensfreude sprühen.

Von Sulamith Ehrensperger

4.3.2021