Interview Lebensende – künstlicher Tiefschlaf kann «extrem hilfreich» sein

Von Jürg Wiler

5.8.2019

Terminale Sedierung erfolgt bei Sterbenden insbesondere bei Schmerzen, Atemnot und Unruhe. (Symbolbild)
Terminale Sedierung erfolgt bei Sterbenden insbesondere bei Schmerzen, Atemnot und Unruhe. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

In der Schweiz ist fast jeder vierte Mensch an seinem Lebensende nicht bei Bewusstsein, sondern in einem künstlichen Tiefschlaf. Tendenz steigend. Was ist bei der terminalen Sedierung zu beachten? Welche Fragen stellen sich dabei? Facharzt Georg Bosshard gibt Auskunft.

In der Schweiz passieren rund drei Viertel aller Todesfälle nicht plötzlich oder unerwartet. Ein Grund ist: Die Hochleistungsmedizin vermag die Menschen länger am Leben zu erhalten.

Mit den Lebensjahren steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit von tödlichen Krankheiten. Sterbenden ermöglichen zum Beispiel stark beruhigende Medikamente, in Ruhe zu gehen. In den vergangenen Jahren haben sich Beteiligte häufiger für eine Sedierung am Lebensende entschieden.

Rund jeder vierte Sterbende erlebt den Tod heute nicht bewusst, sondern im Tiefschlaf – vor rund 18 Jahren war es noch jeder zwanzigste gewesen. Das haben verschiedene Studien der Universitäten Zürich und Genf ergeben.

Studienautor Georg Bosshard – er ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, speziell Geriatrie, Privatdozent der Universität Zürich für Klinische Ethik sowie Mitglied der Exit-Ethikkommission – hat anonyme Angaben von Ärzten ausgewertet, welche diese Technik anwenden.

Herr Bosshard, wann ist es angebracht, einen sterbenden Menschen in den Tiefschlaf zu versetzen?

Zwei Aspekte sind relevant. Erstens: Möchte die betroffene Person das? Wenn sie es nicht ausdrücklich sagen kann, dann muss es zumindest sehr starke Hinweise darauf geben, dass sie es will. Es zählt also der ausdrückliche oder mutmassliche Wille. Zweitens: Sind die medizinischen Bedingungen so, dass es richtig ist, diesen Schritt zu machen?

Wo genau liegt die Grenze?

Die klassische Indikation für eine terminale Sedierung liegt dann vor, wenn medizinische Symptome am Lebensende bestehen, die man auf einem anderen «normalen» Weg nicht mehr in den Griff bekommt. Es sind dies insbesondere Schmerzen, Atemnot und Unruhe.

Georg Bosshard: «Über terminale Sedierung sollte man nicht nur in Palliativstationen sprechen.» 
Georg Bosshard: «Über terminale Sedierung sollte man nicht nur in Palliativstationen sprechen.» 
Bild: zVg

Allein wegen starker Schmerzen wird selten sediert.

Richtig. Schmerz ist ein häufiges Symptom, das man aber in sehr vielen Fällen gut therapieren kann. Jedoch kann vor allem Unruhe schwierig behandelbar sein. Hier rutscht man häufig in eine Sedierung rein. Mit anderen Worten: Man wendet anfänglich bei einer leichten Unruhe genau die gleichen Schlaf- und Beruhigungsmittel an wie bei einer Sedierung, einfach in tiefer Dosierung – zwei Tage später kann man sich jedoch plötzlich in einer Situation befinden, welche die Definition einer terminalen Sedierung erfüllt, also das «kontinuierliche Versetzen in einen Tiefschlaf bis zum Tod». Und dann kann man den Patienten nicht mehr fragen, weil er nicht mehr kommunizieren kann. Das kommt bei Verwirrtheit oder eben bei Unruhe häufig vor.

Was ist bei der terminalen Sedierung am Lebensende grundsätzlich zu beachten?

Gemäss ärztlichen Richtlinien ist zentral: die (mutmassliche) Zustimmung des Patienten, keine alternative Option, ein Lebensendzustand, bei dem der Patient eine Prognose von wenigen Stunden bis wenigen Tagen hat. Zudem muss in einem Protokoll festgehalten werden, weshalb, wie lange und mit welchen Substanzen sediert wird, wen man in die Entscheidung einbezogen hat und dass die Sedierung sachgemäss durchgeführt wurde.

Werden terminale Sedierungen vor allem auf Palliativstationen gemacht?

In einer unserer Studien konnten wir aufzeigen, dass vier von fünf terminalen Sedierungen nicht auf einer Palliativstation stattfinden: Zwei Sedierungen werden im Spital, zwei im Pflegeheim und nur eine auf einer Palliativstation gemacht. Das ist wichtig. Palliativmediziner kennen die Thematik in- und auswendig, und die Mitarbeitenden auf einer Palliativstation sind über die Leitlinien orientiert. Aber wenn jemand zum Beispiel in der Urologieabteilung in einem Spital im Sterben liegt, kann es noch sein wie vor 30 Jahren: Ein Assistenzarzt, der vielleicht noch nie einen Sterbenden betreut hat, ruft den Oberarzt an, welcher hier allenfalls wenig Erfahrung hat und Substanzen verordnet, die von der Art oder der Dosierung her nicht angemessen sind. Über terminale Sedierung sollte man also nicht nur in Palliativstationen sprechen, sondern vermehrt auch in anderen Abteilungen von Spitälern und Pflegeheimen.

Was ist weiter entscheidend?

Um eine gute terminale Sedierung zum Beispiel in einem Pflegeheim machen zu können, muss der Arzt respektive das Ärzteteam während 24 Stunden erreichbar sein und den Patienten kennen. Man kann nicht am Montagmorgen um 10 Uhr eine Sedierung beginnen und dann um 17 Uhr nicht mehr erreichbar sein. Denn falls es in der Nacht um 2 Uhr Schwierigkeiten gibt, muss ein Notfallarzt aufgeboten werden, welcher die genaue Indikation nicht kennt. Dann wird es schwierig. Kurz: Eine terminale Sedierung soll nur in einem guten Versorgungskontext gemacht werden.

Wie beurteilen Sie persönlich die Sedierung am Lebensende?

Diese Massnahme ist manchmal extrem hilfreich. Oder anders ausgedrückt: Es gibt Fälle, wo es tragisch wäre, wenn es sie nicht gäbe. Als Arzt komme ich häufig in schwierige Situationen. Dann ist es für mich wertvoll zu wissen, dass es diese Option gibt, wenn wirklich alle Stricke reissen …

… können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Vor einem halben Jahr betreute ich in einem Pflegeheim einen Patienten, der ein lokal metastasierendes Analkarzinom hatte. Der Tumor wucherte zwischen den Beinen, der Patient war «aus-bestrahlt» und «aus-chemotherapiert». Die Situation war prekär, denn die unteren Körperöffnungen schlossen sich langsam. Da der Tumor immer weiter wuchs, waren die Betreuungspersonen natürlich in grosser Sorge, was in ein, zwei Monaten sein würde. Die Ultima Ratio war dann die terminale Sedierung. Doch da diese im konkreten Fall mit Dormicum in einer hohen Dosierung ganz schwierig zu handhaben war, mussten wir den Patienten zur Weiterführung der Sedierung ins Unispital verlegen. Ich wüsste wirklich nicht, wie man diese Symptome sonst hätte lindern können.

Besteht ein Risiko, dass Sedierungen nicht fachgerecht gemacht werden?

Ja. Eine Studie zeigt, dass hier ein Risiko besteht. So gibt es noch eine beträchtliche Zahl von Ärzten und Pflegepersonen, die mit Morphium sedieren. Das ist immer noch recht verbreitet. Aber wenn man Morphium zur Sedierung einsetzt, hat das oft Nebenwirkungen. Patienten in den letzten Lebenstagen trinken oftmals nicht mehr. Ohne Flüssigkeiten können aber die Nieren Morphium nicht mehr abbauen. In dieser Situation kann es leicht zu einer Morphium-Vergiftung kommen, die sich tpyischerweise durch Zuckungen äussert. Oftmals passiert nun der Fehler, dass man gegen die Zuckungen noch höher Dosierungen von Morphium verarbreicht, statt dieses zu reduzieren.

Statistisch betrachtet steigt die Zahl der Sedierungen. Welches sind die Gründe dafür?

Zum einen wird diese Technik bereits häufig angewandt. Mindestens so stark ist aber auch der Effekt, dass man heute mehr darüber spricht und es mehr wahrnimmt. Als ich vor 30 Jahren noch Assistenzarzt war, gab es den «Cocktail lytique», damals ein Gemisch unter anderem aus einer morphiumartigen Substanz und einem starken Beruhigungsmittel. Wenn ein Patient am Sterben war, rief der Assistenzarzt den Oberarzt an und dieser sagte: «Jetzt ist es Zeit für den ‚Cocktail lytique‘!» Das erfüllte die Definition der Sedierung. Es bestand einfach ein anderer Kontext dazu.

Laut Untersuchungen werden in der Schweiz im Vergleich zum Ausland mehr Menschen am Lebensende sediert.

Vor ein paar Jahren gab es tatsächlich einen Unterschied. Doch ich bin überzeugt, dass – wenn man heute mit den gleichen Methoden untersuchen würde – die Zahlen im Ausland auch höher liegen würden. Gerade in katholischen und südlichen Ländern wie Italien und Spanien, wo man der Suizidhilfe gegenüber extrem kritisch ist, wird relativ häufig sediert. Ein kultureller Unterschied ist, dass man in diesen Ländern die terminale Sedierung oft so durchführt, dass man gleichzeitig künstliche Ernährung und Flüssigkeit verabreicht. Dort gilt: Man darf den Menschen nicht Essen und Trinken vorenthalten. Bei uns in den nördlichen Ländern werden bei der terminalen Sedierung meist Ernährung und Flüssigkeit gestoppt. Das sind kulturelle Muster, und es lässt sich nicht das eine als gut und das andere als schlecht bezeichnen.

«Ich fände es falsch, die terminale Sedierung dazu zu missbrauchen, um die Debatte um die Suizidhilfe zu verhindern.»

Besteht die Gefahr, dass Sedierungen gemacht werden, um für Angehörige und Pflegende die Situation zu erleichtern?

Ja, wobei das auch für andere Lebensend-Entscheidungen gilt. Diese fällt man ja nicht nur für die Patienten. Hin und wieder muss man auch etwas für die Angehörigen tun. Zum Beispiel dann, wenn ein Patient am Sterben ist und vielleicht noch ein oder zwei Tage zu leben hat. Als Arzt kann ich nicht mehr mit ihm sprechen und gehe davon aus, dass er keinen Durst hat. Angehörige aus einem südländischen Kontext sind jedoch oft überzeugt, der Vater sei durstig, und sie wollen eine Infusion. Dann, so glaube ich, schadet die Flüssigkeitsinfusion dem Sterbenden nicht. Wenn wir diese hingegen nicht verabreichen würden, hinterlassen wir Angehörige, die noch jahrelang das Gefühl haben, man habe den Vater verdursten lassen. Juristisch sind wir für den Patienten und nicht für die Angehörigen da. Aber faktisch sind wir – nicht zuletzt bei Demenz – sehr stark für die Angehörigen da, manchmal sogar mehr als für die Patienten.

Die Grenze zwischen terminaler Sedierung und Suizidhilfe scheint schmal …

Es gibt viele Fälle von terminaler Sedierung, bei denen die Grenze klar ist. Aber es gibt auch solche, wo die Grenze sehr schmal wird. Gerade dann, wenn der Patient nicht im Sterben liegt. Ohne Ernährung und Flüssigkeit lebt kein Mensch länger als eine Woche. Wenn aber ein Patient eine Lebenserwartung von eventuell noch mehreren Wochen oder gar Monaten hätte, befindet man sich mit der terminalen Sedierung an der Grenze zur aktiven Sterbehilfe, die ja in der Schweiz verboten ist.

Geht es also bei der Suizidhilfe um Massnahmen, die das Leben verkürzen, bei der terminalen Sedierung dagegen nicht?

Ein Palliativmediziner wird in der Regel darauf hinweisen, dass die terminale Sedierung keine Form von Sterbehilfe ist, weil sie das Leben nicht verkürzt. Das mag zwar meist zutreffend sein, die terminale Sedierung ist ethisch aber dennoch ein schwerwiegender Entscheid, selbst wenn sie das Leben nicht verkürzt. Denn aus Sicht des Patienten liegt es doch sehr nahe beieinander, ob man heute um 16 Uhr sein Leben mit Exit beendet oder aber terminal sediert wird und nie mehr aufwacht. Dazu kommt, dass es immer wieder Patienten gibt, bei denen die terminale Sedierung doch lebensverkürzend wirkt; nämlich dann, wenn ihre Lebenserwartung ohne Sedierung eindeutig mehr als nur einige wenige Tage betragen hätte und man mit der Sedierung gleichzeitig die künstliche Ernährung und Flüssigkeit stoppt. Grundsätzlich betrachte aber auch ich die terminale Sedierung nicht als eine Form von Sterbehilfe im engeren Sinne, sondern als eine eigene Form einer medizinischen Entscheidung am Lebensende.

Über Suizidhilfe wird in der Bevölkerung oft gesprochen, über Sedierung wenig. Weshalb?

Lange hat man nicht über Sedierung gesprochen. Vielmehr ging es um passive, indirekte und aktive Sterbehilfe sowie um Suizidhilfe. Zwei andere Formen von Lebensend-Entscheidungen, die terminale Sedierung und das jetzt aufkommende Thema Sterbefasten, waren lange nicht auf dem Radar. In letzter Zeit spricht man zumindest in Fachkreisen viel über die Sedierung. Wird man in Zukunft auch öffentlich mehr über dieses Thema diskutieren? Wir in der Schweiz sind in der glücklichen Lage, dass wir am Lebensende verschiedene Auswege haben. Die Diskussion über terminale Sedierung verläuft jedoch ganz anders in Staaten, welche die Suizidhilfe und die aktive Sterbehilfe nicht erlauben. In Deutschland oder Frankreich ist die Suizidhilfe faktisch verunmöglicht. Hier rückt die terminale Sedierung als einzige Alternative ins Rampenlicht. So gibt es Stimmen, welche diesen Weg als eigentliche «Lösung» betrachten. Sie argumentieren, die aktive Sterbehilfe und die Suizidhilfe könne verhindert werden, wenn man sich der terminalen Sedierung öffne. Ich finde das keine gute Idee.

Weshalb?

Die terminale Sedierung sollte wirklich nur am Lebensende in solchen Fällen stattfinden, bei denen die Symptome nicht mehr behandelbar sind. Hingegen finde ich richtig, dass man die Suizidhilfe viel breiter zulässt. Ein Sterbewilliger muss nicht in der Situation sein, dass seine Atemnot nicht mehr behandelt werden kann, damit er sich mit Hilfe von Exit das Leben nehmen darf. Hier geht es mehr um Autonomie als um Vermeiden von unmittelbarem Leiden. Beides ist gut und wichtig. Ich fände es falsch, die terminale Sedierung dazu zu missbrauchen, um die ganze Debatte rund um die Suizidhilfe zu verhindern.

Das Interview mit Georg Bosshard erschienen zuerst im Magazin der Sterbeorganisation Exit.

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