Patientenverfügung – ja oder nein?Intensivmediziner: «Lebensqualität oder leben um jeden Preis?»
Von Jürg Wiler
5.8.2020
Was wäre, wenn ich in eine Intensivstation komme und meine Wünsche nicht mehr selbst äussern kann? Dann kann eine Patientenverfügung helfen. Intensivmediziner Thierry Fumeaux berichtet über seine Erfahrungen am Spitalbett.
Manchmal führt ein Unfall oder eine schwere Krankheit zu einer bleibenden Schädigung wichtiger Lebensfunktionen mit schlechter Prognose. Ist dies der Fall, ist eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit zu erwarten. Ist jemand dabei auch nicht mehr urteilsfähig – zum Beispiel wegen einer Hirnschädigung mit Koma – und kann sich selbst nicht zu seinen Behandlungswünschen äussern, so kommt die Patientenverfügung zum Einsatz.
Heute verfügt rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung über eine Patientenverfügung. Die Sterbehilforganisation Exit bietet seinen Mitgliedern seit über 32 Jahren eine Verfügung an, hinterlegt diese abrufbereit und setzt sie bei Bedarf aktiv mit juristischen Mitteln durch.
Viele Menschen haben inzwischen dank einer Patientenverfügung erwirkt, dass ihr Leben nicht unnötig erhalten und verlängert wurde. Hingegen kann ein solches Dokument nicht alle erdenklichen Situationen abdecken. Prof. Dr. med. Thierry Fumeaux, geschäftsführender Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) sowie Co-Leiter der Intensivmedizin am Spital Nyon VD, gab Ende März Auskunft über seine Erfahrungen, auch im Hinblick auf die Coronavirus-Pandemie.
Thierry Fumeaux, Sie waren selbst mit dem Coronavirus infiziert und sind nun wieder an der Arbeit – wie haben Sie diese Krankheit erlebt?
Ich bin müde. Während zehn Tagen bin ich zu Hause geblieben und habe auch die gängigen Symptome wie Husten und Fieber gehabt. Im Rückblick war die Krankheit nicht gravierend, ich gehöre zu keiner Risikogruppe. Doch da ich gerade in dieser turbulenten Zeit im Spital in Nyon fehlen musste und auch für die SGI sehr viel zu tun hatte, war es keine einfache Phase für mich.
Haben Sie eine Patientenverfügung für den Notfall?
Nein. Im Moment erachte ich ein solches Dokument als nicht nötig, denn ich bin 55 und habe keine körperlichen Einschränkungen. Aber ich habe das Thema mit meiner Familie diskutiert. Meine Frau weiss genau, welche medizinischen Massnahmen ich bei einem Notfall möchte und welche nicht. Hingegen bin ich als Organspender registriert.
In welcher Situation würden Sie eine Verfügung erstellen?
Ab 60 und im Falle einer chronischen Krankheit könnte es für mich schnell ein Thema werden.
Stützen Sie und Ihr Team sich in dieser Krisensituation bei intensivmedizinischen Behandlungen vermehrt auf Patientenverfügungen ab?
Ja, die Verfügung ist für uns sehr wertvoll. Zusammen mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat das SGI die Triage-Kriterien für intensivmedizinische Behandlungen und bei Ressourcenknappheit erarbeitet.
Ein Ziel ist, so zu entscheiden, dass die grösstmögliche Anzahl von Leben gerettet wird. Wir wollen erreichen, dass die Menschen realisieren: Es ist wichtig, dass sie frühzeitig in einer Patientenverfügung festlegen, was sie wollen und was nicht. Das gilt in diesen Zeiten vor allem für jene Menschen, die durch das Coronavirus gefährdet sind.
Die Urteilsfähigkeit sollte ja zum Zeitpunkt einer Ansteckung mit Covid-19 normalerweise gegeben sein. Ist bei einer Infektion ein Gespräch über die weiteren Behandlungswünsche des Patienten noch möglich?
Ja, das ist möglich vor einer Intubation, das heisst, bevor ein Beatmungsschlauch über den Mund in die Luftröhre eingeführt wird. Wir versuchen immer, zu diesem Zeitpunkt das weitere Vorgehen mit dem Patienten zu klären. Aber manchmal ist der Patient zu krank dazu.
Welche Rolle spielen dann die Bezugspersonen?
Oftmals diskutieren wir alles Nötige bei Bedarf mit Angehörigen und informieren diese so offen wie möglich über die medizinischen Entscheidungen. Vor allem in einer Notsituation ist es für Angehörige sehr schwierig, sich für oder wider eine Behandlung zu entscheiden. Ihnen kann die grosse Last der Verantwortung genommen werden, wenn sie wissen, was der Patient will.
Wie bewährt sich die Patientenverfügung auf der Intensivstation in dieser ausserordentlichen Situation?
Wenn ein Patient ein solches Dokument hat und geschrieben steht, dass er bei einer solchen Erkrankung keine Intensivpflege oder keine künstliche Beatmung will, ist das relevant für uns. Für die Intensivstationsteams ist es wichtig, dass die Behandlung Sinn macht. Und dieser Sinn besteht darin, dass der Patient die Intensivstation mit Lebensqualität verlassen kann. Die Pflege darf nicht aussichtslos werden und vor allem nicht im Widerspruch zu den Wünschen des Patienten stehen.
Legen zum Beispiel ältere Patienten vermehrt fest, dass sie im Ernstfall nicht künstlich beatmet oder intensivmedizinisch behandelt werden möchten?
Nein, das stelle ich derzeit nicht fest. Das Problem ist: Etliche Menschen halten zwar fest, dass sie keine fortgesetzte medizinische Versorgung oder Behandlung wollen, wenn keine begründete Hoffnung auf Heilung oder Nutzen besteht. Doch für eine Mehrheit ist es sehr schwierig, zu entscheiden, denn dazu ist das Wissen nötig, was genau eine Intubation oder eine künstliche Beatmung bedeutet. Ich rechne damit, dass aufgrund der Covid-19-Epidemie mehr Menschen eine Patientenverfügung ausfüllen werden. Viele dürften mit der Zeit etwas besser verstehen, was auf Intensivpflegestationen passiert.
In welchen Fällen stellt für Sie eine Patientenverfügung in der Intensivstation eine echte Orientierungshilfe dar?
Grundsätzlich bei allen Patienten, die eine chronische Krankheit haben. Dabei kann es sich um schwere Erkrankungen am Herz, an der Lunge oder an der Leber handeln. Wenn jemand an fortgeschrittenem Krebs leidet und nicht mehr ansprechbar ist, sind wir froh, wenn wir auf eine Verfügung zurückgreifen können. Wissenswert für uns ist, was jemandem bei einer Notfallbehandlung wirklich wichtig ist. Und was auf keinen Fall passieren darf. Wenn es sich dagegen nicht um einen Notfall handelt, hat man in der Regel genügend Zeit, um über anstehende Entscheide zu sprechen.
Welche Fragen sollten dann beantwortet werden?
Wirklich hilfreich für uns ist, wenn wir wissen, was für den Patienten wichtiger ist: Lebensqualität oder überleben um jeden Preis. Welche positiven Auswirkungen der Behandlung erwartet er und welche Nebenwirkungen will er akzeptieren?
Hier ist ja die Grenze schmal zur Übertherapie ...
... Um es klarzustellen: Wir führen keine lebenserhaltenden Massnahmen durch, wenn keine Aussicht mehr auf Heilung besteht. Das machen wir auf der Intensivstation seit 20 Jahren nicht mehr.
In vielen Patientenverfügungen ist eine sogenannte Werteerklärung enthalten. Darin werden eigene Wert- und Lebensvorstellungen wiedergegeben, die mit den nächsten Angehörigen, dem Arzt oder einer Gesundheitsfachperson besprochen werden sollten. Zum Beispiel, was das eigene Leben heute lebenswert macht oder wie stark die Lebensqualität eingeschränkt sein dürfte.
Es ist sehr wichtig für uns, zu wissen, was der Patient als wertvoll erachtet. Natürlich kommt es vor, dass Patienten ihre verbleibende Zeit möglichst ausdehnen wollen, sei es wegen einer bevorstehenden Geburt im Familienkreis oder wegen einer Heirat. Nur: Ich nehme die Tendenz wahr, dass sich immer mehr Menschen für Lebensqualität statt Lebensquantität entscheiden. Krebspatienten zum Beispiel wollen nicht zehn Monate im Spital bleiben mit schlechter Lebensqualität, sie bevorzugen eine Variante von sechs Monaten mit einer besseren Lebensqualität.
Stossen Sie auch auf Wünsche, ‹nur› palliativ behandelt zu werden?
Ja. Vor allem Patienten mit Krebserkrankung und alte Menschen legen oftmals fest, dass sie keine Behandlung mit Fokus auf Heilung mehr wollen, sondern dass ihre Lebensqualität möglichst hochgehalten wird.
Sehen Sie auch Optimierungsbedarf bei Patientenverfügungen?
Erstens sollten sich die Menschen grundsätzlich besser informieren. Sie müssen eine Frage beantworten: Weshalb erstelle ich eine Verfügung? Zweitens sollte man sich klar werden, wie ein solches Dokument auszufüllen ist – man sollte die relevanten Informationen also nicht allein und innerhalb von zehn Minuten auf Papier bringen wollen. Die Verfügung sollte zwingend zusammen mit den Angehörigen und dem Hausarzt erarbeitet werden, wobei der Orientierung des Arztes ein hoher Stellenwert zukommt. Vermieden werden sollte, dass jemand bloss schreibt, er wolle bei einer schweren Lungenentzündung keine künstliche Ernährung. Sinnvoll hier ist, sich vorher darüber zu informieren, was genau eine künstliche Ernährung beinhaltet und was sie bewirken kann. Drittens sollte man sich glasklar werden, was für einen wichtig ist, zu entscheiden.
Werden Sie auch mit unrealistischen Wünschen konfrontiert?
Unsere Aufgabe ist, den Patienten die Situation und unsere Entscheidungen näherzubringen, damit Missverständnisse möglichst vermieden werden. Nehmen wir zum Beispiel einen alten Patienten mit Lungenkrebs. Er wird mit einer schweren Lungenentzündung eingeliefert und will, dass wir einen Beatmungsschlauch legen. In einem solchen Fall müssen wir ihm klarmachen, dass seine Überlebenschancen nur sehr gering sind. Wir zeigen also Betroffenen, dass eine bestimmte Intensivbehandlung nicht gut wäre für sie. Was viele nicht realisieren: Nach zehn oder zwanzig Tagen in der Intensivstation wird eine lange Rehabilitation nötig, während der die Lebensqualität gering ist. Menschen glauben oft, dass wir als Intensivmediziner ihr Leben immer retten können – das ist aber nicht so.
Rechtlich gesehen ist der Arzt auf der sicheren Seite, wenn er einer Patientenverfügung folgt. Auch wenn er sicher ist, dass der Patient eigentlich etwas anderes wollte. Erleben Sie solche Situationen?
Manchmal geht aus der Verfügung nicht hervor, was der Patient denkt. Etliche haben zwar eine Verfügung ausgefüllt, aber falls sie dann schwer krank werden, ändern sie ihre Meinung. Wir versuchen immer, alles Nötige zu analysieren. Wenn immer möglich erklären wir die vorgesehenen Massnahmen den Patienten und den Angehörigen. Obwohl manchmal schwierig, versuchen wir, immer das Beste für den Patienten zu entscheiden. Hin und wieder kommen wir aber zum Schluss, dass das Beste nicht mehr möglich ist. In den allermeisten Fällen akzeptieren die Betroffenen unsere Entscheidungen.
Ein Beispiel: Eine junge und gesunde Frau, die sich also nicht spezifisch mit einer bereits vorliegenden Erkrankung auseinandersetzen muss, möchte sich mit ihrer Patientenverfügung für den Fall eines dauerhaften Verlusts der Urteilsfähigkeit – zum Beispiel infolge einer schweren Hirnverletzung – absichern. Reicht aus Ihrer Sicht für sie eine einfach gehaltene Patientenverfügung?
Ja. Wenn man jung ist und keine chronische Krankheit hat, kann man eine standardisierte oder einfache Verfügung erstellen. Man kann diese ja jederzeit wieder anpassen. Zu berücksichtigen ist: Als junger Mensch kann ich nicht erfassen, wie ich entscheiden werde, wenn ich zum Beispiel ein schweres Hirntrauma habe oder einen Arm oder ein Bein nicht mehr gebrauchen kann. Was werde ich dann denken, fühlen und entscheiden? Zum Beispiel nach einem Unfall mit den erheblichen Folgen, dass der Verunfallte nicht mehr gehen kann. Wenn man jung und gesund ist, würde man eine solche Situation nicht akzeptieren wollen. Aber wenn es passiert, wird einem klar, wie wertvoll das Leben ist – selbst mit einer veränderten Lebensqualität. Vieles kann auf einmal akzeptabel werden, was man sich vorher nicht vorstellen konnte.