Interview zum Bierbauch«Männer ignorieren ihren Bauch gerne»
Von Sulamith Ehrensperger
11.9.2020
Der klassische Männerbauch, irgendwann ist er da. Fast alle Männer entwickeln ihn früher oder später. Der Bierbauch, das Abspecken und eine «Wampen»-Challenge – im Gespräch mit einem Ernährungsdiagnostiker.
Herr Hösli, Sie haben die «Sixpack–Wampen-Challenge» für alle ab 40 Jahren ins Leben gerufen. Eine Folge von zu vielen Coronakilos oder weshalb ist die nötig?
Wie viele habe auch ich in der Coronazeit zugenommen, weil ich viel Stress hatte. Ich suchte also Gleichgesinnte, die mitmachen, und rechnete mit zehn bis zwölf Anmeldungen. Wir wurden mit Anfragen überrannt und mussten bei 100 Teilnehmern stoppen. Offenbar haben wir damit einen Nerv der Zeit getroffen.
Welches Ziel verfolgt die Challenge?
Das Ziel ist klar: Die Kilos und den Bauch wegbringen. Es geht nicht darum, sich ein Sixpack anzutrainieren, aber sich mit weniger Bauchumfang wohler zu fühlen. Geht es dem Körper gut, geht es auch dem Kopf gut. Wir möchten die Teilnehmer zu einem Strukturwandel im Alltag bewegen.
Woher kommt der typische «Bierbauch» beim Mann – wahrscheinlich nicht nur von zu viel Bier?
Ein wachsender Bauchumfang geht nicht allein auf schlechte Essgewohnheiten zurück, auch das Jagdverhalten des Mannes ändert sich. Ist er früher häufig ausgegangen, hat auf seine Ernährung und seinen Körper geschaut, so wird das Ausgehen zunehmend weniger wichtig. Wer eine Familie oder eine feste Beziehung hat, geniesst die Zweisamkeit abends mehr – und damit wächst meist auch der Bauch.
Männer leiden deutlich öfter an Übergewicht als Frauen. In der Schweiz ist jeder zweite Mann übergewichtig oder adipös. Warum ist dieser Bauch nicht nur ein ästhetisches, sondern vor allem ein gesundheitliches Problem?
Ein Mann, der einen Bauch hat, hat immer ein Strukturproblem mit dem Essen. Er hat zu viel Stress, lässt dadurch häufig Mahlzeiten ausfallen. Er isst reaktiv, als Reaktion auf einen Reiz, und oftmals abends zu viel. Das Problem: Viszeralfett ist stoffwechselaktiv, das heisst, es fördert Entzündungen und hat Einfluss auf wichtige Hormone. In diesem Fall meist ungünstige: Man fühlt sich erschöpft, hat Zahnfleisch-, Haut- oder Darmprobleme und mag abends nur noch auf dem Sofa rumsitzen. Der Stoffwechsel sinkt, die Entzündungen steigen. Die Folge sind Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes Typ 2.
Frauen beklagen sich eher über Hüftfett, beim Mann ist es der Bauch. Warum?
Da spielen hormonelle Unterschiede mit, der Hauptgrund ist aber, dass Frauen anders ticken als Männer. Generell essen Frauen viel strukturierter, sie verteilen die Mahlzeiten über den Tag. Männer hingegen beschäftigen sich kaum mit Ernährung, oftmals ist es ihnen egal, abends isst Mann sich dann quer durch den Kühlschrank. Wir Männer sind also komplett aufgeschmissen, was strukturierte Ernährung angeht.
Zur Person
zVg
Jürg Hösli ist Ernährungswissenschaftler und greift gerne kontroverse Themen aus Sport, Psychologie und Ernährung auf. Er ist Begründer der Ernährungsdiagnostik und der Schule für Ernährungsdiagnostik erpse in Winterthur und Zürich.
Haben Männer eine grössere Toleranz gegenüber ihrer Wampe als die Frauen gegenüber ihrem Hüftspeck?
Es ist tatsächlich so, dass die paar Kilos zu viel und das Bäuchlein gerne ignoriert werden. Männer wissen viel weniger über Ernährung als Frauen. Frauen sind viel logischer, emotionaler und steuern auch die Ernährung viel stärker. Wenn die Waage mal zu viel anzeigt, setzen sie sich mehr unter Stress. Bei den meisten Männern ist die Toleranzzone sich gegenüber viel grösser. Psychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Männer ab 45, 50 Jahren anfangen, ihr Trink- oder Essverhalten drastisch zu ändern, wenn man ihnen mit möglichen Gesundheitsrisiken Angst macht.
Wie kommt der Bauch wieder weg?
Man muss deswegen nicht das ganze Leben umkrempeln, aber ein wenig Veränderung bedeutet weniger Bauch schon. Essen Sie abends die kleinste Mahlzeit. Das klappt aber nur, wenn man tagsdurch wie ein Kaiser frühstückt, wie ein König zu Mittag isst und sich zwei Zwischenmahlzeiten gönnt. Das bedeutet: sich Zeit nehmen zum Essen und auch die Zwischenmahlzeiten planen, vielleicht auch vorbereiten. Ein Mann braucht durchschnittlich 2’500 Kalorien, das sind vier Mahlzeiten. Gelingt es nicht, die Kalorien über den Tag zu verteilen, also kein Zmorge und mittags schnell ein Sandwich reindrücken, überbordet es am Abend.
Ihr Programm beginnt mit einer «hochkalorischen Phase». Wer mehr isst, nimmt doch zu?
So einfach ist das nicht. Wir haben Teilnehmer, die haben mittlerweile 15 Kilo abgenommen. Das ganz ohne Diät, im Gegenteil, sie haben sogar mehr gegessen. Es gab Teilnehmerinnen, die vor der Challenge ihr Essen abgewogen und nicht mehr als 1’000 bis 1’500 Kalorien zu sich genommen haben. Auf der Waage hat sich aber erst was getan, als wir die Kalorien auf 2’200 oder 2’500 hochgeschraubt haben. Vor allem viele Frauen, die abnehmen wollen, essen deutlich zu wenig, in der Folge beginnt der Körper sich zu schützen und damit steht auch die Waage still.
«Ich esse weniger, also nehme ich ab», warum funktioniert das nicht?
Man kann es an einem Sinnbild erklären: Wenn du einem Geschäftsführer einer Firma kein Geld gibst, um zu investieren, behält er die Firma klein. Gibst du ihm eine halbe Million, bringt er das Geschäft in eine gute Richtung. Wir haben mit unserer Genetik einen ganz gescheiten CEO. Mit der richtigen Ernährung bekommt der Körper das, was er braucht, er verbraucht mehr, funktioniert besser und beginnt dadurch Reserven abzubauen. Der Körper ist ein perfektes ökonomisches System. Der Mensch hätte sonst nicht bis heute überlebt.
Mit welchen Lebensmitteln bringt man die Speckröllchen zum Schmelzen?
Essen Sie möglichst unverarbeitete Lebensmittel und verschiedene Farben, viel Gemüse, Früchte, Kräuter, ein bisschen Nüsse und Vollkornprodukte über den Tag verteilt. Das beste Rezept ist nach Lust und Laune aus allen Bereichen zu essen, dann funktioniert es – und macht Spass.
Ihr Fazit der 12-wöchigen «Wampen»-Challenge?
Ich habe 10,5 Kilo abgenommen und mein Sixpack schon fast erreicht. Auch bei den Teilnehmern beobachte ich erstaunliche Vorher-Nachher-Veränderungen: Es sind nicht nur bis zu 15 Kilo weniger, viele haben wieder mehr Energie und schlafen besser. Am wichtigsten ist doch, dass das Gefühl fürs Essen und den Körper wieder da ist – und damit ein grosses Stück Lebensqualität.