Ähnlich wie Polio Mysteriöse Lähmungskrankheit alarmiert US-Behörden

dpa

3.4.2019

Opfer von akuter schlaffer Myelitis: Joey Wilcox. mit Papa Jeremy.
Opfer von akuter schlaffer Myelitis: Joey Wilcox. mit Papa Jeremy.
Screenshot: ABC News

Erst haben sie Erkältungssymptome, dann kleinere Lähmungen – und sie können auch daran sterben: Eine polioähnliche Krankheit befällt immer mehr Kinder. Die Behörden sind alarmiert.

Der Alptraum begann an einem Morgen im vergangenen Herbst. Da wachte der vierjährige Joey Wilcox im US-Staat Virginia mit einer schlaffen Lähmung in der linken Gesichtshälfte auf. Drei Tage später lag er auf der Intensivstation eines Krankenhauses – nicht mehr in der Lage, seine Arme und Beine zu bewegen oder sich aufzurichten.

Rückenmarkspunktionen und andere Untersuchungen brachten keine Aufklärung über die Ursache. «Es ist verheerend», sagt Vater Jeremy Wilcox. «Dein gesundes Kind kann sich eine Erkältung holen – und wird dann gelähmt.» Joey überlebte, leidet aber immer noch an Behinderungen.

Ähnlichkeiten mit Polio

Und er ist nicht das einzige Opfer: Im vergangenen Jahr wurden in den USA mindestens 228 Fälle von akuter schlaffer Myelitis registriert – einer mysteriösen und manchmal tödlichen Lähmungskrankheit, die immer mehr Kinder trifft und daher die Gesundheitsbehörden zunehmend alarmiert.

Ein kurzes, englischsprachiges Erklärvideo.

Dr. Anthony Fauci, Leiter des US-Instituts für die Bekämpfung von Allergien und Infektionskrankheiten, sieht mögliche Ähnlichkeiten mit Polio (Kinderlähmung), die über Jahrhunderte hinweg hier und da auftauchte, bis sie sich dann im 19. und 20. Jahrhundert epidemisch auszubreiten. So traf es in den USA jährlich Zehntausende Kinder, bis in den 1950er Jahren dann ein Impfstoff zur Verfügung stand.

Fauci, der jetzt im Journal «mBio» über die akute schlaffe Myelitis schrieb, glaubt zwar nicht, dass es wieder so schlimm kommen könnte. Aber er warnt: «Gehen Sie nicht davon aus, dass es bei ein paar Hundert Fällen alle zwei Jahre bleibt.» Der Mediziner bezog sich darauf, dass die Krankheit bislang einem gewissen Zyklus zu folgen scheint: In einem Jahr tritt sie vermehrt auf, im nächsten seltener, dann wieder häufiger.

Auch Europa betroffen

Auch andere Länder haben Fälle registriert, darunter Deutschland, Kanada, Frankreich, Grossbritannien und Norwegen. Aber Zahl und Muster des Auftretens sind in den USA besonders augenfällig. Mehr als 550 Amerikaner erkrankten in dieser Dekade. Mehr als 90 Prozent waren Kinder, die meisten um die vier, fünf oder sechs Jahre alt.

Der Amerikaner Dr. Anthony Fauci warnt vor einem Anstieg der Erkrankungen.
Der Amerikaner Dr. Anthony Fauci warnt vor einem Anstieg der Erkrankungen.
Bild: Keystone

Der grösste Teil hatte erkältungsähnliche Symptome und Fieber, schien sich davon zu erholen – und dann traten Lähmungserscheinungen auf. In einigen Fällen fing es klein an, etwa damit, dass sich der Daumen plötzlich nicht mehr bewegte. Bei manchen wurde es dann so schlimm, dass sie nicht mehr essen oder einatmen konnten. Immer mehr Wissenschaftler vermuten, dass der Hauptauslöser der Krankheit das Enterovirus EV-D68 ist – erstmals vor über 55 Jahren identifiziert und möglicherweise zu einer gefährlicheren Art mutiert.

Enterovirus unter Verdacht

Der Verdacht basiert darauf, dass die akute schlaffe Myelitis immer dann besonders häufig aufzutreten scheint, wenn es auch vermehrte Fälle von Erkrankungen der Atmungswege gibt, die von EV-D68 verursacht werden. Viele Kinder haben nach Angaben ihrer Familien zumindest etwas Bewegung ihrer betroffenen Gliedmassen wiedererlangt, aber eine völlige Genesung ist ungewöhnlich.

Genaue Statistiken dazu gibt es nicht, auch nicht über die Zahl von Todesfällen, die der US-Seuchenbekämpfungsbehörde CDC zufolge aber selten sind. Ärzte wenden eine Reihe von Behandlungsmethoden an, von Steroiden über antivirale Medikamente und Antibiotika bis hin zu Blutreinigungen. Aber nach CDC-Angaben gibt es keine klaren Beweise, dass sie wirken.

Ein vertieferendes Erklärvideo auf Englisch.

Eltern erkrankter Kinder schildern, dass Ärzte zumindest anfangs genau ratlos erschienen wie sie selber. «Jeder wünscht sich verzweifelt ein Wunderding», sagt die Texanerin Rachel Scott, deren Sohn Braden 2016 erkrankte. Der Zustand des Jungen hat sich wieder etwas verbessert, aber er kann seinen rechten Arm immer noch nicht bewegen und hat Probleme beim Schlucken und Bewegen seines Halses.

17 Monate Kampf

Der kleine Joey kann seinem Vater Jeremy Wilcox zufolge wieder rennen und seine Arme bewegen. Doch seine Muskulatur im rechten Bein und der Schulter ist schwach, und er hat weiter Lähmung in der linken Gesichtshälfte. «Er kann nicht richtig lachen», so Wilcox. In beiden Fällen spielte Physiotherapie bei der Teilgenesung eine grosse Rolle.

Was Eltern iwssen müssen.

Aber es gibt auch tragischere Beispiele. Katie Bustamentes Sohn Alex erkrankte 2016, im Alter von fünf Jahren. Es fing damit an, dass er morgens plötzlich seinen Löffel nicht mehr in der Hand halten konnte. Es folgten 17 Monate mit Krankenhausaufenthalten, Operationen und anderen Behandlungen, um dem Kind das Atmen zu ermöglichen.

Der Junge starb im vergangenen Mai. «Ich will, dass sie forschen, die Ursache und einen Weg zur Verhinderung der Krankheit finden», fordert die Kalifornierin. «Das hier nimmt zu. Das sollte nicht geschehen.»

Der nächste Anstieg kommt bestimmt

Mit 120 bestätigten Fällen wurde in den USA 2014 der erste grössere Ausbruch der Krankheit registriert. 2015 fiel die Zahl auf 22, 2016 stieg sie auf 149, 2017 sank sie auf 35. Nach 228 bereits fest bestätigten Fällen 2018 sind dieses Jahr bislang vier Erkrankungen identifiziert worden.

Wissenschaftler wenden mittlerweile bei der Untersuchung von Rückenmarksflüssigkeit feinere Methoden an – in der Hoffnung, den Verdacht einer Verbindung zwischen der Krankheit und EV-D68 untermauern und damit gezieltere Behandlungsmethoden entwickeln zu können.

Die von Fauci geleitete Behörde bemüht sich um Bundesmittel für eine verstärkte Forschung, und auch die CDC verspricht grössere Anstrengungen. Die Zeit dränge, betont Fauci, denn man könne nicht einfach annehmen, dass es beim Auf und Ab der Erkrankungszahlen alle zwei Jahre bleibe. Der nächste Anstieg «könnte 2019 kommen, wer weiss».

Bilder des Tages

Zurück zur Startseite