Was tun gegen Einsamkeit? «Blick in Zukunft ist in Zeiten des Coronavirus schwierig zu ertragen»

Von Jennifer Furer

14.3.2020

Das Coronavirus zwingt die Gesellschaft zum Social Distancing. Die fehlenden physischen Kontakte führen zu Einsamkeit – vor allem bei älteren Menschen. Was kann dagegen getan werden?

Ruth liegt auf ihrem Bett. Eigentlich hätte sie heute Besuch von ihrem Sohn und ihrem Enkel erhalten sollen – doch dieser fällt aus. Zu gross ist die Ansteckungsgefahr für die altersgeschwächte Seniorin.

Stattdessen empfängt Ruth eine Pflegerin mit Gesichtsmaske und blauen Untersuchungshandschuhen im Zimmer. Sie sieht das Gesicht der zierlichen jungen Frau nicht mehr richtig. Dabei lächelte sie immer so fröhlich. Ruth ist einsam.

So wie Ruth geht es derzeit vielen Menschen auf der Welt. Das Coronavirus zwingt zur Isolation. Das soziale Leben steht still. Einsamkeit macht sich breit. Thomas Steiner, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP sagt, dass alle Altersgruppen auf unterschiedlichste Art davon betroffen seien.

Junge leiden wegen fehlendem Ausgang

«Bei den jungen Leuten sind soziale Kontakte identitätsbildend», sagt Steiner. Ihnen würde jetzt etwas fehlen. «Sie können nicht in den Ausgang, Veranstaltungen werden abgesagt, Kontakte in der Ausbildung sind aufs Minimum reduziert und Reisen ist kaum mehr möglich», so Steiner.

Das schmerzt die Jungen besonders. «Sie blicken nach vorn, wollen etwas erleben und erreichen. Dieser Blick in die Zukunft ist zu Zeiten des Coronavirus für die Jungen schwierig zu ertragen und schmerzt.»



Auch jene Menschen, die sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und nun im Homeoffice arbeiten müssen, merken, wie einsam dies sein kann und wie sehr der Alltag durch Routinen und Alltagsroutinen gefüllt ist. «Es wird einem bewusst, dass Menschen oft auf Autopilot gestellt sind: Aufstehen, duschen, arbeiten, essen», sagt Steiner. Wenn die Routinen wegfallen, kann es psychisch herausfordernd werden.

Tod wird wieder präsent

«Wir begegnen uns dann selber. Alltägliche Ablenkungen halten uns nicht mehr von unserem Selbst und der Reflektion über dieses fern», sagt Steiner. Es sei nicht so einfach, sich mit sich selber zu beschäftigen. In dieser Stille würde der Mensch an seine Endlichkeit erinnert. «Das Virus wirkt unheimlich. Man weiss nicht, wann und ob man selbst betroffen sein wird. Es gibt immer mehr Infizierte, die Todesfälle steigen.» In diesem Kontext den Gedanken an den Tod zu verbannen, das gelinge nicht immer.



Das Virus würde uns in Zeiten zurückversetzen, in denen der Tod in der Gesellschaft noch präsent war. «Als ich noch jung war, fuhr das Bestattungsamt mit schwarzen Autos durch Zürichs Strassen. Später wurden die Autos grau, beschriftet waren sie nur noch mit Stadt Zürich», erinnert sich Steiner. Heute sehe man Bestattungsautos kaum mehr. Und wenn doch, dann sind sie unauffällig.

Depression und Anpassungsstörung

Von der Einsamkeit zu Zeiten des Coronavirus betroffen seien besonders auch Pensionierte. «Sie haben sich Sachen vorgenommen, die sie nach ihrem Arbeitsleben endlich tun können. Das Virus bremst sie jetzt aber», sagt Steiner.

Auch Menschen in Alters- und Pflegeheimen litten. «Der Entzug von Reizen – wie etwa ein Besuch – und Zuwendungen fehlt.» Auch Berührungen durch das Pflegepersonal seien vermutlich nicht mehr im selben Ausmass vorhanden.

All diese Arten von Isolation in den unterschiedlichen Altersgruppen könnten schwerwiegende psychische und physische Folgen haben. Es können beispielsweise Depressionen oder Anpassungstörungen entstehen, wenn schlechte Gefühle über eine längere Zeit intensiv vorhanden sind. Von einer Anpassungsstörung wird gesprochen, wenn sich ein Mensch nicht an eine veränderte Situation anpassen kann.



Steiner rät Menschen, die sich einsam fühlen, sich in die Natur zu begeben. «Es ist sinnvoll, seine Sinne auf eine neue Art zu gebrauchen, als wir es vielleicht bisher getan haben: einem Bach zuhören, Frühlingsgeräusche wie Vogelgezwitscher anhören oder Tiere beobachten.»

Was auch gegen die Isolation helfen kann: Telefonisch mit Leuten in Kontakt zu bleiben. «Man könnte an Leute denken, die es momentan besonders schwierig haben und diese anrufen», so Steiner.

Stille ertragen

Es sei aber auch möglich, sich einfach einmal der Stille hinzugeben. «Das kann unglaublich schön sein, weil es eine Möglichkeit ist, die uns selten begegnet. Die Stille kann aber auch extrem laut sein», sagt Steiner.

Würde jemand die Stille nicht ertragen und möglicherweise in eine Depression rutschen, rät Steiner den Kontakt zu Menschen oder professionelle Hilfe zu suchen.

Das Coronavirus, da ist sich Steiner sicher, verändert unsere Welt nachhaltig. «Wir sollten das als Chance nutzen, um es dem bisherigen Trott auszubrechen und uns neu zu organisieren», so Steiner.

Die Krise würde auch im Arbeitsbereich Neues, nicht nur Negatives, bringen. «Beispielsweise sehen Arbeitgeber, dass Homeoffice neue Möglichkeiten bietet.» Es entstehe derzeit Platz für Innovation und Kreativität. 

Auch für Ruth endet das Coronavirus hoffentlich in einer schönen Begegnung – wenn sich die Lage endlich beruhigt hat.

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