Interview Viele Jahre Isolation – wie hält man so etwas aus?

Von Runa Reinecke

17.7.2019

Er zeigt sich kämpferisch, doch die vergangenen Jahre haben bei Julian Assange Spuren hinterlassen. 
Er zeigt sich kämpferisch, doch die vergangenen Jahre haben bei Julian Assange Spuren hinterlassen. 
Bild: Keystone

Seit mehr als sieben Jahren lebt WikiLeaks-Gründer Julian Assange auf engstem Raum. Im «Bluewin»-Interview erläutert die Rechtspsychologin Leena Hässig, welche Spuren das hinterlässt und wie es Inhaftierten ergeht, die vielleicht den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen müssen.

Julian Assange geht es schlecht. Während mehrerer Jahre verschanzte er sich in der ecuadorianischen Botschaft in London, um einer Auslieferung an die USA zu entgehen. Eine Zeit, die laut dem UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer Spuren hinterliess: Assange soll unter Angstzuständen leiden und Anzeichen für ein schweres psychisches Trauma aufweisen.

Am 11. April dieses Jahres wurde der 48-Jährige von der britischen Polizei verhaftet, nachdem sein Asyl in der Botschaft aufgehoben worden war. Die USA werfen Assange mehrere Straftaten vor. Derzeit sitzt er in Untersuchungshaft.

Leena Hässig kann nachvollziehen, wie sich die dauerhafte Isolation auf einen Menschen auswirkt. Die Rechtspsychologin steht regelmässig mit Inhaftierten in Schweizer Justizvollzugsanstalten in Kontakt. Im Gespräch erzählt sie, wer besonders unter der Haftsituation leidet und was passieren kann, wenn Gefängnisinsassen den Bezug zur Realität verlieren.

Frau Hässig, Julian Assange lebte während der vergangenen sieben Jahre auf nur 20 Quadratmetern in der ecuadorianischen Botschaft in London – wie hält man so etwas aus?

Wie sein Alltag im Detail ausgesehen hat, wissen wir nicht, auch nicht, wie viel Besuch er in dieser Zeit empfangen hat oder wie häufig er Kontakt zu den Angestellten der Botschaft pflegte. Aus meiner Berufserfahrung weiss ich aber, wie schwierig es für Inhaftierte im Gefängnis ist, wenn die Kommunikation fehlt, also eine gewisse Sprachlosigkeit da ist. Sie sind froh, wenn sie sich mit Mitgefangenen oder dem Gefängnispersonal austauschen können. Dass Julian Assange freien Zugang zum Internet hatte, war sicherlich eine grosse Erleichterung für ihn. Er konnte stets mit seinem Umfeld, mit Familie und Freunden in Kontakt bleiben.

Internetzugang, ein Privileg, das Insassen von Schweizer Haftanstalten nicht haben…

Eigentlich nicht, aber es kommt vor, dass sie sich Zugang verschaffen. Wem das gelingt, wer zum Beispiel mit der Aussenwelt skypen kann, dem geht es besser. Getrennt zu sein von der Familie, den engsten Freuden – das ist für die allermeisten sehr schwierig.

Schwierig, so wird auch Assanges Charakter von manchen seiner Wegbegleiter beschrieben. Während er in der ecuadorianischen Botschaft weilte, haben sich auch immer wieder Personen von ihm abgewendet, darunter sein Biograf.

Sie etikettieren ihn als selbstverliebt und narzisstisch – doch man muss über die Motive nachdenken, die ihn angetrieben haben. Was hat ihn dazu bewegt, Whistleblower zu werden? Dazu bedarf es einer Menge Mut, auch wenn er selbst, bei dem, was er tat, vielleicht nicht immer die ganze Realität vor Augen hatte.

Die Rechtspsychologin Leena Hässig weiss, wie sich Isolation auf einen Menschen auswirkt. 
Die Rechtspsychologin Leena Hässig weiss, wie sich Isolation auf einen Menschen auswirkt. 
Bild: zVg

Es wäre zu kurz gedacht und es würde ihm nicht gerecht werden, ihn einfach als mühsamen Kerl abzustempeln. Es kann auch sein, dass dies ein Teil seiner Persönlichkeit ist, wenn er sich durch Reaktionen wie Ungeduld, Frustrationsintoleranz oder Impulsivität bemerkbar macht – nicht ungewöhnlich für jemanden, der in einer Extremsituation ausharren muss. Für ihn selbst vermutlich schwerer zu verarbeiten ist das Bild, das sich die Aussenwelt von ihm macht: Für seine Befürworter ist er ein Held, dem grosses Unrecht widerfährt. Für die anderen ist er des Teufels, ein Vergewaltiger, ein Spion.

Assange soll während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft Kot an die Wände geschmiert haben.

Das zeigt, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Das sieht man häufiger bei Personen, die ihre Emotionen nicht ausleben, nicht richtig verarbeiten können, dazu gehören auch Menschen in Altersheimen oder Personen in Untersuchungshaft. Während meiner Laufbahn bin ich immer wieder Personen begegnet, die befremdliche Dinge während ihrer Inhaftierung getan haben; sich zum Beispiel in Toilettenpapier eingerollt haben. Das geht dann schon sehr in Richtung Haftpsychose: Der Betroffene verliert den Bezug zur Realität.

Sie sprachen eben Assanges Reaktionen an: Gibt es denn typische Verhaltensweisen, die sich bei Menschen in einer ähnlichen Isolationssituation zeigen?

Ist die Aktivität, die man in sich trägt, über längere Zeit nicht gefragt, stumpft man ab und Affekte werden kaum noch gezeigt. Es sind die ganz alltäglichen Dinge, die plötzlich fehlen: Mal eben in den Grossverteiler einkaufen zu gehen oder zu kochen – das geht nicht mehr. Von jetzt auf nachher ist man nicht mehr selbstbestimmt, sondern vollkommen abhängig. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die natürliche Aktivität, die die Persönlichkeit von Julian Assange ausmachte, in Frustration und Aggressivität gewandelt haben könnte. Auf der anderen Seite verfügt auch jeder halbwegs gesunde Mensch über eine grosse Anpassungsfähigkeit.

«Während meiner Laufbahn bin ich immer wieder Personen begegnet, die befremdliche Dinge während ihrer Inhaftierung getan haben.»

Und dann wird aus der Ausnahmesituation irgendwann Gewohnheit?

Gerade zu Beginn des Strafvollzugs sind die Inhaftierten oft sehr aufgewühlt. Passiert dann über einen längeren Zeitraum nichts, stellt sich eine gewisse Routine ein, und sie kommen zu einer sogenannten Ruhe. Sobald sich dann wieder etwas bewegt, weil ein weiterer Gerichtstermin oder Ähnliches bevorsteht, kommen Gefühle wie Hoffnung oder Enttäuschung und dadurch wieder mehr Unruhe auf.

Die Momente der Veränderungen sind immer die schwierigsten. Das soll aber nicht heissen, dass die langen Phasen, während deren nichts geschieht, nicht auch zermürbend und belastend sein können, sich Verzweiflung bis hin zu Depressionen einstellen kann. Eine ganz grosse Rolle spielt die Sexualität, die in einer Haftanstalt nicht mehr so gelebt werden kann wie in Freiheit. Das ist immer noch ein grosses Tabuthema.

Wie erleben Sie Menschen, die – genau wie Assange – wissen, dass sie über viele Jahre weggesperrt werden?

Die einen «stürmen», lehnen sich auf und protestieren heftig gegen ihre Gefängnisstrafe. Andere neigen eher dazu, innerlich zu verkümmern, und versuchen mit dem reduzieren Alltag zurechtzukommen.

Arrangieren sich Letztere mit ihrer Situation, oder sind das eher Anzeichen für eine Kapitulation?

Da zeigen sich eher die Anpassungsfähigkeit und die Einsicht. Sie sind sich ihrer Tat und der daraus entstehenden Konsequenzen bewusst. Je mehr sie den gesellschaftlichen Zusammenhang begreifen, umso besser können sie das Inhaftiertsein als eine Wiedergutmachung dann auch akzeptieren. Eine jahrzehntelange Haft hinterlässt bei jedem Spuren. Es gibt Personen, die sehr vereinsamen, wenn sie wenig zwischenmenschlichen Kontakt haben. Kranke Insassen, die wissen, dass sie wahrscheinlich nie wieder rauskommen, wünschen sich sogar, durch eine Sterbeorganisation wie Exit aus dem Leben zu scheiden.

«Die einen «stürmen», andere neigen eher dazu, innerlich zu verkümmern.»

Was hilft einem Menschen in Haft, besser mit der Isolation zurechtzukommen?

Ich habe ganz unterschiedliche Leute kennengelernt. Die einen schätzen Rituale und halten sich dabei an eine bestimmte Tagesstruktur: Mittagessen gibt es immer um 12:00 Uhr, Telefonate mit der Aussenwelt werden stets um 15:00 Uhr geführt, und um 19:00 Uhr sitzt man dann vor dem TV. Andere bilden sich weiter, lernen Sprachen oder betätigen sich kreativ. Halt bieten auch befreundete Mitgefangene – entsprechend gross ist die Enttäuschung, wenn dieser Mensch entlassen wird und man selbst zurückbleibt.

Wem macht die Anpassung an das Leben hinter Gefängnismauern besonders zu schaffen?

Sehr schwer ist das für Mütter, die von ihren oft noch kleinen Kindern getrennt leben müssen. Oder wenn der Insasse weiss, dass es draussen jemandem schlecht geht und er selbst nicht aktiv werden kann. Die Auseinandersetzung mit der Aussenwelt hat einen grossen Einfluss darauf, wie man sich drinnen fühlt.

Wie arbeiten Sie mit den Inhaftierten?

Rechtspsychologinnen und -psychologen behandeln die Straftäter, damit sie nicht wieder rückfällig werden. Das schliesst auch ein, dass die Delinquenten Verantwortung für ihre Tat übernehmen müssen, ihr Handeln reflektieren und – betreffend ihres Funktionierens – einsichtig sind. Im letzten Schritt müssen sie eine bessere Steuerungsfähigkeit entwickeln, damit sie keine weiteren Straftaten mehr begehen. Mit sogenannten politischen Gefangenen ist das nicht in gleichem Masse möglich. Hier kann man eine objektive Auseinandersetzung anbieten, die den Betreffenden nicht nur die eigene Perspektive, sondern auch die der anderen näherbringt.

Packt Sie im Umgang mit den Gefangenen auch ab und an das Mitgefühl, oder können Sie das komplett ausblenden?

Befremdliches oder gar grenzverletzendes Verhalten von Personen im sozialen Kontext lösen bei uns allen einen Automatismus aus: Entweder will man bestrafen oder man empfindet Mitgefühl. Ein Extrembeispiel: Sehen wir einen Menschen in desolatem Zustand, der am Strassenrand um Geld bettelt, löst das entweder Ablehnung in uns aus und wir wenden uns von ihm ab. Oder aber wir bieten Hilfe an, geben ihm Geld oder besorgen ihm etwas zu essen.

Es kommt schon vor, dass ich bei der Arbeit im Gefängnis denke: «Oje, der hat eine furchtbare Kindheit durchlebt. Der muss es jetzt besser haben …». Da vergisst man für einen kurzen Moment das Delikt. Als Psychologin sind mir diese Mechanismen bewusst, und ich weiss damit umzugehen. Aber es braucht auch immer eine weitere Person, die «stopp!» sagt und einem gleichzeitig die Taten dieser Menschen aufzeigt. Wir Fachpersonen tauschen uns regelmässig untereinander aus, damit das Bild, das wir uns vom Straftäter machen, objektiv bleibt.

Vielen Laien gelingt das allerdings nicht, und sie lassen sich manipulieren …

Manipulation … ein Wort, das fast immer falsch gebraucht wird! Übrigens ein Begriff, der nicht aus der Psychologie stammt, sondern ursprünglich aus der Chemie. Im Kontext von juristischen Fragen finden wir dieses Wort heutzutage öfters. Für Manipulation braucht es jedoch immer mindestens zwei. Ich sage lieber, dass man gefordert beziehungsweise herausgefordert wird und wachsam sein sollte. Kein Mensch kann einfach so über einen anderen bestimmen. Zumindest so lange nicht, bis ihm jemand eine Pistole an den Kopf oder ein Messer an die Kehle hält.

Zur Person: Leena Hässig Ramming hat Psychologie, Strafrecht und Strafprozessrecht studiert. Sie ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtspsychologie und Stiftungsratspräsidentin der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Hässig arbeitete über 30 Jahre lang als Psychotherapeutin beim Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern. Heute ist sie in eigener Praxis für Rechtspsychologie in Bern und bei der Fachstelle Gewalt Bern tätig.

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