Sprachpfleger Das Wort des Jahres steht ganz im Zeichen von Corona

Von Mark Salvisberg

8.12.2020

Systemrelevant – das sind vor allem Mitarbeitende in Gesundheitsberufen. 
Systemrelevant – das sind vor allem Mitarbeitende in Gesundheitsberufen. 
Bild: Getty Images

Die Begriffe sind verkündet: systemrelevant, Maskensünder, stosslüften. Das überraschte Raunen bleibt aus. Und doch gibt es bei dieser Wahl Unerwartetes. Der Sprachpfleger mit einer Zusammenschau.

Würde ein trockener Statistik-Fan seine Wörter des Jahres eruieren, lauteten diese: und, der, die, das. Quantitativ hätte er recht; es sind seit je die am häufigsten verwendeten Wörter in der deutschen Sprache.

Doch uns fühlenden Menschen ist die schiere Menge nicht genug. Wir brauchen emotionale Qualität: Welche Aspekte des Weltgeschehens haben uns am meisten berührt? Was hat uns geärgert, überrascht? Oder, vor allem 2020, wovon haben wir die Schnauze voll?

Absehbar und trotzdem unerwartet

Hätte man sich 2020 diese Wort-Kür nicht sparen können? Jetzt über ein Wort des Jahres abzustimmen, ist, als wollten wir den wichtigsten Erdtrabanten wählen. Jetzt ist Corona, jedes andere Siegerwort wäre Schiebung. Ein Blick nach Deutschland bestätigt: Die drei neu gekürten Wörter lauten: Corona-Pandemie, Lockdown und Verschwörungserzählung. Die Resultate hierzulande hätten also etwa lauten müssen: Corona, Covid-19, Maskenpflicht, Abstand, Lockdown.

Doch Corona hat sich zwar als das Megathema erwiesen, unsere Deutschschweizer Wahl überrascht gleichwohl. Sie mutet differenzierter an als die unseres nördlichen Nachbarn. Uns ist eiskalt bewusst geworden, dass einige von uns systemrelevant sind und andere weniger; dass mangelndes Befolgen von Regeln das Pflegepersonal und somit das Schweizer Gesundheitssystem an die Kapazitätsgrenze und darüber hinaus bringen kann. Wir haben uns damit schwergetan, für das unkorrekte Tragen oder Nichttragen einer Maske gerügt zu werden, und es wurde uns beigebracht, dass man mit Stosslüften die gefährlichen Corona-Aerosole so verdünnen kann, dass sie uns (praktisch) nicht mehr gefährden. Es sind alles Wörter, die in einem völlig neuen Zusammenhang erstmals in dieser Häufigkeit auftraten.

In der welschen Schweiz zeigt sich ein ähnliches Bild: Im Zentrum stehen die Abwehrmassnahmen gegen das Virus (luttes, gestes barrières). Ebenso im Tessin: distanza, extraordinari (bezogen auf die aussergewöhnliche Lage).

Seit 2003 mit eigenem Wort des Jahres

Deutschland wählt seit 1971 seine Wörter des Jahres. Der Sieger anno dazumal: aufmüpfig. Spätestens seit der Kür der Bezeichnung Hartz IV zum Wort des Jahres wurde klar: Bei solchen Ausdrücken harzt es bei uns Schweizern gewaltig mit dem Interesse, ebenso bei den Schlagwörtern Euro/Teuro. Mehr Relevanz! Und schon bald hiess es: Mehr Dräck! Seit 2003 kochen wir unser eigenes, eidgenössisches Buchstabensüppchen, jeweils in den Geschmacksrichtungen der vier Landessprachen.

Zuerst war eine bunt zusammengewürfelte, aber durchaus hochkarätige Gruppe aus den Bereichen schreibende Zunft, Moderation und Satire in Zusammenarbeit mit dem Radio SRF3 dafür zuständig. 2017 übernahm die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), genauer: das Departement Angewandte Linguistik, diese Aufgabe, wodurch diese Wort-Wahl eine wissenschaftliche Dimension erhielt. Kein Wunder, der Forschungseinrichtung steht die umfangreichste Wortdatenbank des Landes mit Abermillionen von Texten zur Verfügung.

So wird gewählt

Mit der Korpuslinguistik Swiss-AL wird pro Landessprache eine Wörterliste mit Begriffen erstellt, bei denen eine Bedeutungsverschiebung zu verzeichnen war, die neu entstanden sind und/oder die besonders oft gebraucht wurden. Danach ist die Öffentlichkeit aufgerufen, Vorschläge via Mail, soziale Netzwerke oder SRG einzureichen. Im Anschluss bringen Sprachprofis aus den vier Sprachgebieten Vorschläge aus ihrer Sicht ein.

Das Wahlprozedere verdient das Prädikat äusserst aufwendig, doch ist es auch äusserst demokratisch? Schliesslich entscheiden am Ende ganz wenige für ganz viele. Eine kleine Portion Willkür kann angesichts der Herausforderung punkto Gewichtung von Relevanz und Häufigkeit der Wortgebilde nicht ausgeschlossen werden, zumal auch thematisch eine gewisse Bandbreite angestrebt wird. In der diesjährigen Auswertung hat Corona aber schlicht keine Vielfalt zugelassen.

Die Wörter werden jünger

Im Dezember 2019 lautete das Wort Klimajugend. Genauso politisch, wenn auch bieder, hiess es 2007/08/09 Sterbetourismus, Rettungspaket und Minarettverbot.

In den letzten Jahren wurden die Begriffe immer jünger und knackiger: MeToo, Doppeladler. Der Einfluss der Jugend wird noch deutlicher, wenn man die zweiten und dritten Plätze von 2018/19 betrachtet: Moderne Wörter wie weglachen, Influencer, 079, Okay Boomer und Flugscham setzten sich gegen Rahmenabkommen durch – und waren um einige Coolness-Grade höher.

Hat die Jugend das Ruder übernommen? Es scheint so. Ein möglicher Grund: Früher musste man, um abzustimmen, Briefe verschicken. Heute läuft das bequem via Social Media und über die Website der ZHAW; der Abstimmungkanal wurde also verjüngt.

Überraschungen weiterhin möglich

Vorletztes Jahr machte der Doppeladler das Rennen. Kein Wort, sondern eine Handgeste. Ebenso unerwartet gewann zuvor 2014 das #-Zeichen, 2017 der konkrete Hashtag #MeToo. Technische Begriffe als echte Wörter? Eigentlich hätte ich für 2020 wiederum ein Novum erwartet – eine Turnübung aus dem Hause Tiktok vielleicht? Aber leider hat sich ein Bastard von einem Virus in unseren Sprachgebrauch eingenistet und uns gezwungen, immer neue Kopien rund um Corona zu generieren.

Zur Person: Mark Salvisberg war unter anderem als Werbetexter unterwegs. Der Absolvent der Korrektorenschmiede PBS überarbeitet heute täglich journalistische Texte bei einer Tageszeitung.


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