Kolumne «Die Bevormundung von uns Alten ist eine Frechheit»

Von Marianne Siegenthaler

14.12.2020

Manche Ältere, die noch allein zu Hause leben, entscheiden sich, das Risiko einer Infektion in Kauf zu nehmen, damit sie weiter ihre Angehörigen treffen und einkaufen gehen können. (Symbolbild)
Manche Ältere, die noch allein zu Hause leben, entscheiden sich, das Risiko einer Infektion in Kauf zu nehmen, damit sie weiter ihre Angehörigen treffen und einkaufen gehen können. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Alte Menschen sind in der Corona-Pandemie besonders gefährdet. Zu ihrem Schutz werden sie deshalb bevormundet, isoliert und weggesperrt – bis zur kompletten Vereinsamung.

Ich hab Glück. Ich gehöre nicht zur Risikogruppe. Weder vom Alter noch vom Gesundheitszustand her. All die vielen Massnahmen, die sich praktisch im Wochenrhythmus verschärfen, muss ich zwar mitmachen. Aber primär sind die für die Vulnerablen gedacht. Also für die alten Menschen. Für diejenigen mit Vorerkrankung. Oder einfach für die ab 65 Jahren.

Der Schutz der Alten dient als Rechtfertigung dafür, dass wir uns ohne Maske kaum aus dem Haus trauen. Dass wir auf Restaurantbesuch, Party und Reisen und vielleicht auch auf Skifahren verzichten müssen. Dass manche ihren Job und ihre Existenz verlieren. Und dass wir unzählige weitere Regeln und Vorschriften einhalten müssen. Wer nicht spurt, dem werden härtere Massnahmen angedroht. Also «ohni Znacht is Bett», sozusagen.

Zur Autorin: Marianne Siegenthaler
Bild: zVg

Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin, Texterin und Buchautorin. In ihrer Kolumne nimmt sie die grossen und kleinen, die schrägen und schönen, die wichtigen und witzigen Themen des Alltags unter die Lupe – mal kritisch, mal ironisch, mal mit einem Augenzwinkern. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und lebt am Zürichsee. www.texterei.ch

Wen wundert es, dass die vielbeschworene Solidarität angesichts all der Restriktionen und negativen Auswirkungen der Schutzmassnahmen immer weniger vorhanden ist.

Das sagt zwar kaum jemand laut, aber der Generationenkonflikt ist deutlich spürbar. Beispielsweise in den Kommentarspalten der Online-Medien oder auf Social-Media-Plattformen wie Twitter.

Da ziehen manche User auf übelste Art und Weise über die ältere Generation her, weil diese auch mal als fröhliches Senioren-Wandergrüppli unterwegs ist, Jassabende veranstaltet oder Jodelfeste besucht. Derweil sich manch einer überlegt, wie er überhaupt ein Weihnachtsfest zustande bringt mit maximal zehn Personen aus maximal zwei Haushalten.

Mein Tipp: Buchen Sie für sich, Ihre Familie und Ihre Freunde einen Langstreckenflug. Da gelten diese Regeln nicht, sie können viele Stunden ganz nah beieinander verbringen, und Essen und Trinken gibt es da auch.

Generationenkonflikt spitzt sich zu

Senioren-Bashing ist allerdings nichts Neues. Wie ich in meiner Kolumne vor zwei Jahren geschrieben habe, nimmt man ältere Menschen als Kostenfaktor, als Seuche und Klotz am Bein der Gesellschaft wahr.

Durch die Corona-Pandemie werden sie – hinter vorgehaltener Hand – auch noch verantwortlich gemacht dafür, dass Reisebüros, Restaurants, Bars, Clubbetreiber und andere mehr Konkurs anmelden müssen. Dass Angestellte im Homeoffice versauern und wir alle unser Gesicht hinter einer Maske verstecken müssen – ausser wenn wir essen und trinken.

Bevormundung nicht zu rechtfertigen

Dabei, und das sollte man sich unbedingt bewusst sein, wurde die Risikogruppe ungefragt unter Schutz gestellt. Als könnten alle über 65 nicht mehr selber auf sich aufpassen. Und selbst dafür sorgen, dass ihr Ansteckungsrisiko möglichst gering ist und sie gesund bleiben.

Der Umgang in der aktuellen Situation mit den älteren und alten Leuten zementiert das Vorurteil, dass diese unselbstständig, gebrechlich und nur noch beschränkt entscheidungsfähig sind.

Natürlich gibt es auch Menschen, für die man sorgen muss. Menschen mit Demenz zum Beispiel oder auch Pflegebedürftige. Aber der grösste Teil der Senior*innen ist durchaus in der Lage, mit der Pandemie umzugehen. Und sie haben diesbezüglich ganz konkrete Vorstellungen.

Ich hab mich umgehört bei älteren Menschen, und für die allermeisten ist klar: Wenn sie die Wahl hätten, würden sie eher ein paar Lebensmonate opfern, um weiterhin soziale Kontakte mit der Familie oder Freunden pflegen zu können, als wochen- oder gar monatelange im Heim weggesperrt zu werden. Zu ihrem eigenen Schutz natürlich.

Und falls es sie doch trifft und sie schwer erkranken, dann wollen sie keineswegs «an Schläuchen sterben», wie ein betagter Bekannter es ausdrückte. Und er fügte an: «Die Bevormundung von uns Alten ist eine Frechheit.» Da bin ich ganz seiner Meinung.

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In der Rubrik «Die Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren von «blue News» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion.news@blue.ch.

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