Arno Camenischs neuster Roman «Der Liebeskummer dauere mindestens doppelt so lang wie der Rausch»

Von Sulamith Ehrensperger

5.5.2020

Der Bündner Autor und Performer Arno Camenisch bewegt mit seinen Büchern ein breites Publikum und seine Lesungen sind Kult.
Der Bündner Autor und Performer Arno Camenisch bewegt mit seinen Büchern ein breites Publikum und seine Lesungen sind Kult.
Bild: Janosch Abel

Arno Camenischs neuestes Buch «Goldene Jahre» spielt an einem Kiosk. Dort warten zwei Frauen auf Kunden, vergeblich. Sie schwelgen in Erinnerungen – doch die goldenen Zeiten sind längst vorbei.

Heftli, Schoggistängeli, Zigaretten und andere Freuden des Alltags kaufen wir meist am Kiosk. Auch Rosa-Maria und Margrit verkaufen «Zückerli» – und damit ganz viele Lebensgeschichten. Sie alle haben sich an ihrem Kiosk abgespielt, den die beiden vor 51 Jahren in einem kleinen Bündner Dorf eröffnet haben.

Diejenige des Pfarrers etwa, der sein Heftli in den «Blick» eingewickelt haben will. Oder die von Fredy, der gleich zwei Päckli Kaugummi täglich kaufte, wenn er mal wieder am Liebeskummer zu kauen hatte.

Die beste Zeit der Kaugummis waren sowieso die 80er-Jahre, da habe sie die ganze Nation gekaut, erinnert sich Rosa-Maria: «Sogar der Gemeindepräsident kätschte so Zeugs, das gehörte zum guten Ton.» Und sie fährt sich mit den Fingern durch die Dauerwelle.



Um den Kiosk ist eine neue Welt entstanden

Die beiden schwelgen in Erinnerungen an die «Goldenen Jahre», die sie erlebt haben, inzwischen glänzt jedoch vor allem die Leuchtreklame ihres Kiosks über dem Dorf. Kunden kommen kaum mehr zum Kiosk mit Zapfsäule – auch wegen der Dorfumfahrung. Früher war das anders: Durchreisende, darunter auch Schauspielerinnen und Bundesräte besuchten den Kiosk.

Rosa-Maria und Margrit lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie schalten das Radiogerät mit der abgebrochenen Antenne ein und schreiben die Benzinpreise mit einer Kreide auf eine Tafel. Während sich der Alltag im Kiosk relativ wenig geändert hat, ist drumherum eine neue Welt entstanden.

Die Auseinandersetzung mit dieser Welt, ob Digitalisierung, Elektroautos oder Liebesleben, erleben die beiden vor allem bei der Lektüre der Heftli, die sie verkaufen. Rosa-Maria holt eines aus dem Gestell, netzt den Finger und schlägt es auf Seite 8 auf: «Also hier steht's, gemäss Experten, dauere der Liebeskummer mindestens doppelt so lang wie der Rausch.»

«Sep denn scho» – so tönt Camenisch

Ob unerfüllte Liebe oder der ausbleibende Winter, Mondlandung oder Tschernobyl – Camenisch stellt dem Mikrokosmos Dorfleben die grossen Themen der Menschheit gegenüber. Auch dieser Camenisch-Roman ist wie Kino im Kopf, dabei schwingt der melancholisch-humorvolle «Camenisch-Sound» im Ohr stets mit.

«Oh, jägeri», «sodali» oder «öppä», seine Erzählsprache ist von den Geräuschen seiner Kindheit geprägt, wie der Autor und Performer ja auch selbst über sich sagt. Arno Camenisch ist in Tavanasa in der Surselva aufgewachsen, direkt an den Gleisen.

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt.
Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt.
Bild: Janosch Abel

«Sep denn scho», sagt Rosa-Maria, rückt mal wieder ihre Brille mit Goldrand zurecht. Mit den Figuren, ihrem «Sound» und ihren Geschichten öffnet Camenisch auch ein ganzes Panorama eines Dorflebens. Es ist eine zunehmend aussterbende Kultur, die er mit den Geschichten der beiden Frauen schildert.

Der Mann der Dolores etwa, der gerne Porsche fuhr und in Casinos Unmengen von Jetons verbraten hatte, bis er eines Tages verschwand und seine Familie sitzen liess. Oder Valentin, der zur falschen Zeit zur Toilette musste und so in seinem Leben die wichtigsten Momente verpasste.

In den Anekdoten und Gedanken von Rosa-Maria und Margrit schwingt zwar Humor und Hoffnung mit, aber auch Traurigkeit. Denn wie immer handelt auch dieser Camenisch vom Wandel – und vom Ende. Bis es so weit ist, ziehen Rosa-Maria und Magrit weiterhin jeden Morgen die Rollläden hoch – und schalten die Leuchtreklame auf dem Dach ein.

In «Goldene Jahre» erzählt Arno Camenisch mit Witz und Liebe von einer Welt im Wandel. Doch solange Margrit und Rosa-Maria ihren Kiosk bedienen, bleibt dieser ein Ort, wo die Welt noch in Ordnung ist.
In «Goldene Jahre» erzählt Arno Camenisch mit Witz und Liebe von einer Welt im Wandel. Doch solange Margrit und Rosa-Maria ihren Kiosk bedienen, bleibt dieser ein Ort, wo die Welt noch in Ordnung ist.
Bild: Engeler-Verlag

Bibliografie: «Goldene Jahre» von Arno Camenisch, erschienen im Engeler-Verlag, um 25 Franken.

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