«Platzspitzbaby» «Eine Art Leibeigene, die stumm und willenlos zu ertragen hatte»

Von Michelle Halbheer

9.1.2020

Offene Drogenszene – als Zürich an der Nadel hing

Offene Drogenszene – als Zürich an der Nadel hing

Wie es zur offenen Drogenszene in Zürich kam und was damals wirklich passierte, zeigen wir im historischen Rückblick.

03.02.2022

Die in «Platzspitzbaby» beschriebene Kindheit von Michelle Halbheer berührte 2013 Hunderttausende Schweizer. Anlässlich der Verfilmung des Buchs erscheint dieses neu – «Bluewin» publiziert einen Auszug.

Michelle Halbheers Mutter gehört der Platzspitz-Generation an; schwerst drogenabhängig vernachlässigte und gefährdete sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Kind.

Michelle ist knapp zehn, als sich ihre Eltern scheiden lassen und sie in die Obhut ihrer heroin- und kokainabhängigen Mutter kommt. Die folgenden Jahre werden für das Mädchen derart bedrohlich, dass es nur knapp überlebt. Das Elend dringt, auch über den besorgten Vater, immer wieder nach draussen. Aber Behörden, Ärzte, Polizei und zufällig involvierte Erwachsene bleiben untätig.

Als Michelle mit 16 ihr Leben selbst in die Hand nimmt, weiss sie noch immer nicht, was Normalität bedeutet. Etwas anderes jedoch weiss sie ganz genau: Dass sie niemals so enden will wie ihre Mutter. Mit grosser Willensanstrengung setzte sie in den folgenden Jahren um, was viele andere Kinder aus Drogenfamilien leider nicht schaffen: Sie machte eine Ausbildung – und sie blieb bis heute suchtfrei.

«Bluewin» publiziert kurz vor dem Start des Kinofilms «Platzspitzbaby» das Kapitel «Allein» aus dem Buch «Platzspitzbaby – meine Mutter, ihre Drogen und ich», welches Journalistin Franziska K. Müller aufgezeichnet hat. Die Leserinnen und Leser können am Ende der Geschichte das Taschenbuch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.

Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.

Allein

Bereits als kleines Kind lernte ich, mich auf Mutters Unberechenbarkeit einzustellen, feinste Schwingungen ‎wahrzunehmen, mein Verhalten anzupassen, alles zu tun, um sie nicht zu erzürnen. Ohne Vater, der seine Frau ‎am Abend zur Rede stellte und sie – falls er Zeuge verbaler Ausfälligkeiten oder tätlicher Zwischenfälle wurde – ‎scharf in die Schranken wies, gab es niemanden mehr, der ihr Einhalt bot. Drogenbedingte Psychosen ‎lösten wahnhafte und bösartige Zustände aus.

Als Grund für eine Bestrafung konnte nun alles und nichts ‎gelten, und die einzige Sicherheit in diesem Leben – mein Wissen, dass nichts mehr Gültigkeit hatte – ‎versetzte mich zunehmend in einen Zustand der Verunsicherung und Ruhelosigkeit. Was an einem Tag ‎befohlen wurde, belegte Mutter wenig später – ohne mein Wissen – mit einem Verbot.

Michelle Halbheer über ihre Mutter: «Bereits als kleines Kind lernte ich, mich auf ihre Unberechenbarkeit einzustellen, feinste Schwingungen ‎wahrzunehmen, mein Verhalten anzupassen, alles zu tun, um sie nicht zu erzürnen.»
Michelle Halbheer über ihre Mutter: «Bereits als kleines Kind lernte ich, mich auf ihre Unberechenbarkeit einzustellen, feinste Schwingungen ‎wahrzunehmen, mein Verhalten anzupassen, alles zu tun, um sie nicht zu erzürnen.»
Bild: Keystone

Keine einzige Aussage ‎war länger als ein paar Stunden verbindlich, keine Handlung rational, kein Gemütszustand und keine Laune ‎verlässlich. Organisatorisch, emotional und in meiner geistigen Entwicklung auf mich allein gestellt, lebte ich ‎jahrelang ohne Routinen oder Strukturen einfach in den Tag hinein.

Ein guter Tag begann damit, dass sich ‎Mutter am Morgen einen Schuss setzen konnte und danach genügend Stoff im Haus war. An solchen Tagen ‎kochte sie Kaffee, schminkte sich sogar und ging mit unserem Hund ins Freie, versprach einen Zoobesuch oder ‎ein Spielzeug.‎ Die schlechten Tage überwogen bei weitem, und der morgendlichen Methadondosis folgte die hektische ‎Beschaffung von Geld für den nächsten und den übernächsten Schuss. Gelang das nicht oder mit Verzug, ‎was fast immer der Fall war, machten sich Entzugserscheinungen bemerkbar, die mit grosser Aggressivität ‎einhergingen.

Im Gegenzug zu meiner verfrühten Selbständigkeit drängte mich Mutter zunehmend in eine physische und ‎psychische Abhängigkeit, der ich ohnmächtig gegenüberstand. Ich war ihr Besitz und immer mehr auch ‎eine Art Leibeigene, die stumm und willenlos zu ertragen hatte, was sie mir auferlegte. Nachdem die ‎zwanzigtausend Franken von Herrn Reza verschleudert waren, standen Betreibungsbeamte – und später ‎auch die Freier – erneut vor unserer Tür.



Nebst Tausenden von Franken, die Mutter monatlich für Heroin ‎und Kokain ausgab, verschuldete sie sich nun auch in meinem Namen mit Unsummen durch unsinnige ‎Katalogkäufe. Bereits als Zwölfjährige wurden Schuldscheine auf mich ausgestellt. Dieses illegale Verhalten ‎bekämpfte ich mit allen Mitteln und begleitete Mutter auch zu den demütigenden Gesprächen auf dem ‎Betreibungsamt. Die Hoffnung der Gläubiger, dass ich nach der Volljährigkeit für die Schulden meiner ‎Mutter haften würde, zerschlugen sich aufgrund meiner Interventionen. Dennoch dauerte es im jungen ‎Erwachsenenalter Jahre, bis meine Bonität wieder als gut qualifiziert wurde.

Die ständige Geldnot trug in meiner späteren Kindheit dazu bei, dass sich das Risiko von unberechenbaren ‎Zuständen meiner Mutter vergrösserte, sobald das Monatsende näher rückte, die Alimente und staatlichen ‎Zuschüsse verpulvert waren und Mutter nur noch der Verkauf ihres Körpers blieb, um an Bargeld zu gelangen. Als Drogen-Prostituierte musste sie Unvorstellbares mit sich machen und ‎Unaussprechliches über sich ergehen lassen. Hasserfüllt kehrte sie manchmal zurück.

Damit mir ein Sturz ‎erspart blieb, wenn sie mich von einer erhöhten Sitzgelegenheit herunterzerrte, flüchtete ich mich in ‎solchen Situationen, mittlerweile blitzschnell in meinen Reaktionen, sofort in Bodennähe. Die Arme über ‎dem Kopf verschränkt, schützte ich mich in kauernder Position vor der Wut, schloss die Augen und versuchte, ‎mich gedanklich an einen schönen Ort zu versetzen. Einmal zwang sie mich, ihr in die Augen zu blicken, ‎verbot mir das Weinen, und als ich diesem Befehl nicht Folge leisten konnte, schlug sie erneut auf mich ein.

«Platzspitzbaby»: Der Trailer

«Platzspitzbaby»: Der Trailer

02.12.2019

Andere Bestrafungen schmerzten weitaus mehr, sie quälten meine Seele: Das einzig verlässliche Lebewesen, der ‎einzige und grösste Trost in dunklen Stunden – mein geliebter Hund, auf den sich all meine Liebe ‎konzentrierte – verschenkte sie eines Tages ohne Vorankündigung an einen Junkie-Kollegen. Als ich von der ‎Schule nach Hause kam, war Ninos Platz leer, und meine verzweifelten Suchaktionen blieben erfolglos. ‎Mutters Erklärung für eine Entscheidung, die mich in rasende Trauer versetzte, lautete, ich hätte mich ‎nicht genügend um das Tier gekümmert. Eine andere Grausamkeit fand statt, als ich mich einem absurden ‎Befehl aktiv entgegenstellte. Sie verliess das Haus wortlos, kehrte nach einer halben Stunde zurück, setzte ‎sich vor meinen Augen einen Schuss. Der Körper knickte weg, der Kopf fiel nach hinten, und bereits lallend ‎fragte sie: «Ist es das, was du gewollt hast? Bist du jetzt zufrieden?» Ich begann sie zu verabscheuen.

Lange Zeit verstand ich ihre Handlungen als Resultat meiner eigenen Fehlerhaftigkeit und später als ‎Konsequenz einer Sucht, deren Opfer sie ist. Die Bösartigkeit brachte ich nicht direkt mit jener Person in Verbindung, die mir ‎wohl oder übel am nächsten stand. Das änderte sich mit zunehmendem Alter. Mutter war nicht dumm, wenn es ‎um ihre eigenen Bedürfnisse und Vorteile ging. In der aufflackernden Abneigung erkannte sie instinktiv die ‎Gefahr meiner inneren Trennung von ihr. Die wiederholte Drohung, die unregelmässig eingenommenen ‎HIV-Medikamente ganz abzusetzen oder sich mit einer Überdosis das Leben zu nehmen, würde ich jemals ‎weggehen, hemmten den aufkeimenden Hass, dieses befreiende Gefühl, und erstickten die Rebellion und die ‎Ablösung im Keim.

Michelle Halbheer über ihre Selbstverletzungen: «Das Ansetzen der ‎Klinge bewirkte Aufregung und Vorfreude, dem schnellen Schnitt folgte ein brennender Schmerz, der nur ‎langsam abklang. Blut, das sich aus kunstvollen Verästelungen zu einem breiten Strom verband, strömte aus ‎meinem Körper. Die einsetzende Entspannung war umfassend.»
Michelle Halbheer über ihre Selbstverletzungen: «Das Ansetzen der ‎Klinge bewirkte Aufregung und Vorfreude, dem schnellen Schnitt folgte ein brennender Schmerz, der nur ‎langsam abklang. Blut, das sich aus kunstvollen Verästelungen zu einem breiten Strom verband, strömte aus ‎meinem Körper. Die einsetzende Entspannung war umfassend.»
Bild: Privatarchiv

Aus Angst vor ihrer Drohung, sich das Leben zu nehmen, aber auch aus Furcht vor dem ‎nun angedrohten Kinderheim – die dortigen Zustände schilderte mir Mutter mit Verweis auf ihre eigenen ‎Erfahrungen als fürchterlich – teilte ich mein Leid weiterhin niemandem mit. Sprach man mich direkt ‎darauf an, relativierte und log ich, was Mutters Lebenswandel und mein Elend betraf, aber immer öfter ‎träumte ich davon, sie möge nicht mehr nur durch die Polizei aufgegriffen und einige Tage eingesperrt, ‎sondern zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden, damit ich allein und in Ruhe gross werden könnte. Und ‎doch liebte ich sie noch. Hatte ich es ihr nicht wiederholt zugeflüstert, als sie, die Spritze im Arm, wie ein ‎Leichnam vor mir lag? Hatte ich nicht versprochen, alles zu tun, was sie wollte, wenn sie nur wieder erwachte?

Dass mir ihr Schicksal gleichgültiger wurde, bemerkte ich daran, dass ich bald nur noch Gefühle für sie ‎empfand, wenn sie litt. Litt sie deswegen so übermässig? Ihre Qualen, ihre Schreie, ihr Sterbenwollen und ‎nicht -können kann ich niemals vergessen. Nicht nur das Weiterleben, auch andere Strafen wurden ihr auferlegt. Als Folge des exzessiven Drogenkonsums fielen ihr alle Zähne aus. Keine noch ‎so starken Schmerzmittel brachten Linderung. Sie schrie wie unter Folter, nächtelang, während ich sie mit ‎Tee und kühlen Umschlägen versorgte. Ich weinte in grösster Verzweiflung mit ihr, wenn sie, wie unter ‎Stromschlägen, zitternd und erbrechend höllische Qualen litt, weil es an Heroin fehlte. Ich bedauerte sie, ‎wenn sie in Panik vor dem Tod, den sie sich an anderen Tagen so sehr wünschte, beinahe krepierte.

Einmal geriet sie in die Fänge von Dealern, denen sie hohe Geldbeträge schuldete. Sie verschwand tagelang. ‎Ich wusste nicht, ob sie noch lebte, blieb zu Hause, genoss mit schlechtem Gewissen die Stille. Mutter ‎kehrte mehr tot als lebendig zurück. Während der dreitägigen Gefangenschaft hatte man sie misshandelt ‎und mit einer Eisenstange verprügelt. Mehr wollte sie nicht erzählen.



Da sie sonst Drohungen und Verwüs‎tungen gegen jeden aussprach, der sich nur ein Widerwort erlaubte, schloss ich aus ihrer Schweigsamkeit auf ‎ein Drama, bei dem sogar ihr Wille zur Destruktion ausgeschöpft worden war. Mein versteinertes Herz zog ‎sich bei ihrem Anblick zusammen. Die Rastlosigkeit begann sich dauerhaft in mir einzunisten. Ich schnitt ‎mir zum ersten Mal die Arme auf, ohne dass ich jemals von dieser Art der Selbstverletzung gehört oder gelesen ‎hatte. Ich beschaffte mir eine Rasierklinge. Die ersten Schnitte setzte ich oberflächlich an, die weiteren tief. Das ‎Blut rann in hellen, dünnen Strömen herab, ein Schauspiel, das ich fasziniert beobachtete, als Mutter ‎unvermutet in die Wohnung trat. Ich erhob mich sofort, lief zur Toilette, bandagierte die Verletzungen mit ‎Toilettenpapier, zog zur Sicherheit eine Jacke über und setzte mich wieder hin. Das Blut rann aus dem Ärmel, hinterliess auf der Tischplatte ein Rinnsal, das träge in den Teppich sickerte.

Mutter sass mir gegenüber, ‎blickte mich an und durch mich hindurch. Sie zeigte keine Reaktion. Ihr Herz zog sich bei meinem Anblick ‎nicht zusammen. Aus dem Schneiden machte ich ein wiederkehrendes Ritual: Klinge, Tupfer und ‎Desinfektionsmittel bereitgelegt, befand ich mich jeweils in beinahe festlicher Stimmung. Das Ansetzen der ‎Klinge bewirkte Aufregung und Vorfreude, dem schnellen Schnitt folgte ein brennender Schmerz, der nur ‎langsam abklang. Blut, das sich aus kunstvollen Verästelungen zu einem breiten Strom verband, strömte aus ‎meinem Körper. Die einsetzende Entspannung war umfassend.

Auf dem Bett liegend, war alles Denken ‎ausgeschaltet, und ich verbrachte Stunden in diesem makellosen Zustand. Die ausgiebige Pflege der Wunden ‎tat mir in den folgenden Tagen gut: Unzählige Male eingecremt und mit Stoff umhüllt, verhätschelte ich ‎mich selbst, während der Destruktionswille meiner Mutter keine Grenzen mehr kannte.‎

Der Film «Platzspitzbaby» läuft ab dem 16. Januar 2020 in den Schweizer Kinos.

Leserangebot «Platzspitzbaby»

Die Leserinnen und Leser von «Bluewin» können das Taschenbuch «Platzspitzbaby – meine Mutter, ihre Drogen und ich» unter dem Codewort bw20pb zum Spezialpreis von Fr. 14.90 statt 17.90 (inkl. Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Achtung: Bitte Codewort nicht vergessen.

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