Kolumne Ernährungstipps führen bei Übergewicht zu noch mehr Leid

Von Jürg Hösli

14.6.2021

Das Vorurteil, übergewichtige Menschen seien disziplinlos, stigmatisiert Betroffene.
Das Vorurteil, übergewichtige Menschen seien disziplinlos, stigmatisiert Betroffene.
Bild: Getty Images

Menschen mit Übergewicht erfahren an vielen Orten Hänseleien und Ausgrenzung. «Iss doch einfach weniger», denken die meisten. Doch gut  gemeinte Ratschläge lösen noch mehr Leid aus. 

Von Jürg Hösli

14.6.2021

Der Sommer kommt, die Kleider werden knapper und damit steigt auch für viele Menschen der Frust, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Die letzten Monate mit Covid und fehlenden Strukturen haben bei vielen auf der Waage deutliche Spuren hinterlassen. Jetzt noch schnell ein paar Kilos abzunehmen, ist für die meisten ein Ding der Unmöglichkeit. Darum sollten wir fülligere Menschen nicht einfach aburteilen.

Begegnen wir auf der Strasse oder im Café einem Menschen, der deutlich fülliger ist, kommt schnell mal das Vorurteil «verfressen» oder «zu wenig selbstbeherrscht». Damit tun wir dieser Person vielleicht sehr Unrecht.

Diese Kolumne soll dem Verständnis füreinander gewidmet sein, in einer Zeit, in der leider oft zwischen gut und schlecht polarisiert wird.

Programmiert, um Hungersnot zu überleben 

Um zu erfassen, warum einige Menschen trotz genug Bewegung und gezieltem Essverhalten nicht abnehmen können, müssten wir verstehen, wie unser Körper funktioniert. Unsere Genetik, also unser Bauplan, ist leider noch nicht in der heutigen Zeit angekommen. Energetisch funktionieren wir immer noch wie vor vielen Tausenden von Jahren. In einer Hungersnot zu überleben, ist, was zählt. Vor allem der weibliche Körper schützt sich bei einer energetischen Unterversorgung deutlich stärker.

Zur Person: Jürg Hösli
Jürg Hösli
zVg

Jürg Hösli ist Ernährungswissenschaftler und greift gerne kontroverse Themen aus Sport, Psychologie und Ernährung auf. Er ist Begründer der Ernährungsdiagnostik und der Schule für Ernährungsdiagnostik erpse in Winterthur, Zürich und Solothurn.

Wann aber kommen wir heute noch in eine solche Hungersnot? In jeder klassischen Diät und auch einer deutlichen Unterversorgung an Nährstoffen während des Tages. Die Folge ist, dass das Hungers- und Stresshormon Cortisol steigt. Leider erhöht sich dieser Regler in unserem Körper auch bei Stress. Stetige Erreichbarkeit und einen allgegenwärtigen Leistungsdruck interpretiert der Körper also ähnlich wie eine Hungersnot. Diese «Fehlschaltung» hat in unserem Körper einige negative Folgen.

Das Entzündungsgeschehen im Körper erhöht sich und die sogenannte Insulinsensitivität verringert sich. Das bedeutet, dass der Körper weniger Kohlenhydrate in der Muskelzelle speichern kann. Wenn aber weniger dort ankommt, haben wir im Gegenzug mehr Lust auf Süsses, Salziges oder Brot, denn die Zelle will Glukose, also Zucker.

Immer mehr Fettzellen am Bauch

Gelangen weniger Kohlenhydrate in die Zelle, verbrennt der Körper eben nicht einfach Fett, sondern mehr Bauteile von Eiweiss. Nun muss man wissen, dass genau dieses Eiweiss Wasser in der Zelle speichert. Das heisst also, dass wir mehr Wasser in den Zell-Zwischenräumen und somit mehr Gewicht auf der Waage aufweisen.

Aber es kommt noch schlimmer: Haben wir Stress, werden unsere Fettzellen vor allem am Bauch so verändert, dass immer weniger Fett ab- und mehr aufgebaut wird.



In unserem Körper funktioniert vieles auf Schloss- und Schlüsselprinzip. Es ist folgendermassen: Braucht der Körper vermehrt Energie, wird Adrenalin freigesetzt. Dieses dockt dann an die Fettzelle an (Beta-2-Adrenozeptor) und sorgt für eine Energieerhöhung von Fett im Blut. Nun gibt es aber zwei sogenannte Rezeptoren an der Fettzelle. Wenn das Adrenalin nun am zweiten (Alpha 2 Adrenozeptor) andockt, geschieht eben rein gar nichts. Man kann sich vorstellen, dass so kaum Fett abgebaut wird, was umso frustrierender ist.

Bei Frauen sind Fettpolster hartnäckiger

Leiden wir über lange Zeit unter sehr hohem Stress oder führen dem Körper, vor allem während körperlicher Anstrengung, deutlich zu wenig Nährstoffe zu, beginnt dessen Umprogrammierung. Immer mehr Fett wird aufgebaut statt aufgebaut, im Gewebe lagert sich mehr Wasser ein. Wir sind im Überlebensmodus angekommen. Und dieser ist, wie gesagt, bei Frauen stärker ausgeprägt. 

Diese Pfunde erzeugen zusätzlichen psychologischen Druck. Genau dies führt dazu, dass bei vielen Frauen nichts mehr auf der Waage geht. Umso wichtiger ist es, dass wir im Büro und im Kollegenkreis diese Menschen nicht noch mit gut gemeinten Ernährungstipps beglücken wollen. Diese sind nicht wirklich nützlich, wenn Stress die Ursache des Übergewichts ist.

Im Gegenteil: Wir setzen Betroffene zusätzlich unter Druck und lösen noch mehr Leid aus. In der heutigen Zeit sollten wir es uns allen ein bisschen leichter machen und andere definitiv nicht auch noch wegen ihrer Figur ausgrenzen.

«Die Kolumne»: Deine Meinung ist gefragt

In der Rubrik «Kolumne» schreiben Redaktorinnen und Redaktoren, freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von «blue News» regelmässig über Themen, die sie bewegen. Leserinnen und Leser, die Inputs haben oder Themenvorschläge einreichen möchten, schreiben bitte eine E-Mail an: redaktion.news@blue.ch