Peter Schneider zum 2. Corona-Winter «Es ist angenehm zu wissen, dass kontrolliert wird»

Von Bruno Bötschi

10.12.2021

«Die Polizei wollte mein Zertifikat noch nie sehen, aber ich musste es schon öfter im Restaurant und auf dem Flughafen zeigen»: Peter Schneider begrüsst die Massnahmen in der Corona-Pandemie.
«Die Polizei wollte mein Zertifikat noch nie sehen, aber ich musste es schon öfter im Restaurant und auf dem Flughafen zeigen»: Peter Schneider begrüsst die Massnahmen in der Corona-Pandemie.
Bild: Keystone

Psychoanalytiker Peter Schneider spricht mit blue News über den Sinn von Kontrollen, die Grenzen der Freiheit und was er von einer Impfpflicht halten würde.

Von Bruno Bötschi

10.12.2021

Peter Schneider, wann wurden Sie zuletzt kontrolliert?

Vor ein paar Tagen musste ich im Zug das Billett zeigen.

Wann haben Sie sich zuletzt über eine Kontrolle genervt?

Vor ein paar Jahren machte mich ein Tram-Kontrolleur darauf aufmerksam, dass mein Abonnement bereits seit zwei Wochen abgelaufen sei. Das Ärgerliche war nicht die Kontrolle, sondern meine Vergesslichkeit.

Mussten Sie eine Busse zahlen?

Ich hatte Glück, die VBZ waren sehr kulant. Auch die Zugbegleiter*innen der SBB haben sich mir gegenüber immer ausgesprochen freundlich verhalten.

Haben Sie in den letzten Wochen schon einmal eine Kontrolle des Covid-Zertifikates durch die Polizei in einem Restaurant, in einem Fitnesscenter oder sonst wo erlebt?

Die Polizei wollte mein Zertifikat noch nie sehen, aber ich musste es schon öfter im Restaurant und auf dem Flughafen zeigen und einmal in einem Laden in Berlin, weil dort 2G galt.

Zur Person: Peter Schneider
Peter Schneider
Bild: SRF/Oscar Alessio

Peter Schneider hat Philosophie, Germanistik und Psychologie studiert. Der 62-Jährige lebt und arbeitet in Zürich als Psychoanalytiker. Er war Privatdozent für Psychoanalyse sowie Professor für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Bremen. Seit vielen Jahren ist Peter Schneider auch als Satiriker (SonntagsZeitung) und Kolumnist (TagesAnzeiger und Bund) tätig. Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher.

Fühlen Sie sich persönlich durch die Zertifikatspflicht wieder sicherer?

Auf alle Fälle sicherer also ohne. Es ist angenehm zu wissen: Ich bin dreimal geimpft und das Zertifikat wird kontrolliert.

Essen Sie wieder häufiger auswärts, seit die Zertifikatspflicht gilt?

Ich war noch nie ein Mensch, der häufig auswärts essen ging.

Wieso nicht?

Ich bin Raucher und für mich beginnt der richtig gemütliche Teil eines Essens erst danach, also beim Saufen und Schloten (lacht). Aber Rauchen im Restaurant ist ja schon länger nicht mehr erlaubt und deshalb esse ich, gerade im Winter, lieber daheim.

Manche Menschen behaupten, wir würden seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in einem Überwachungsstaat leben und Bundesrat Alain Berset sei zum Diktator mutiert.

Diese Aussagen sind derart schwachsinnig, dass man gar nicht dagegen argumentieren kann. Es ist ja nicht so, dass in der Schweiz in den letzten zwei Jahren nur aus Überwachungswille eine Überwachung eingeführt worden wäre. Eine Pandemie-Situation zudem so zu deuten, dass jetzt von den Behörden plötzlich diktatorische Rechte ausgeübt werden, ist einfach absurd. Aber wenn wir schon über den Überwachungsstaat reden wollen: Ich finde das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, zudem die Schweizer*innen im Juni 2021 Ja gesagt haben, viel problematischer. Ich habe diese Vorlage abgelehnt.

Was auffällt: Menschen, die regelmässig über den Überwachungsstaat motzen, sind gleichzeitig äusserst aktiv auf Facebook und anderen sozialen Medien.

Ach, von diesen Hardcore-Verschwörungstheoretiker*innen weiss man ja, dass die es sogar schaffen, völlig entgegengesetzte Theorien und Argumente miteinander zu verbinden. Sie behaupten zum Beispiel, Lady Diana lebe noch, sagen aber gleichzeitig, die Prinzessin sei vom Geheimdienst ermordet worden. Dieses Gehabe überrascht mich nicht, denn diesen Menschen geht es gar nicht darum, eine wirkliche Überwachung zu kritisieren.

Worum geht es ihnen dann?

Sie haben die Chance ergriffen, die Pandemie zu einem Querfront-Thema zu machen, sie berauschen sich an der eigenen Macht. Wäre es nicht so trist und dumm, könnte man es als eine politische Fasnacht betrachten, in der alles auf den Kopf gestellt wird. Nur, dass diese Fasnacht nicht nur drei Tage dauert, sondern inzwischen chronifiziert ist.



«Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser»: Was halten Sie von der Redewendung, die dem russischen Politiker Lenin zugeschrieben wird?

Von diesem Spruch halte ich nicht besonders viel. Er unterschlägt, dass, egal wie misstrauisch ein Mensch auch sein mag, wir letztendlich doch alle vertrauen müssen. Vertrauen ist das unentbehrliche Medium, in dem sich alle Individuen einer Gesellschaft bewegen. Wir alle werden ab und zu betrogen, aber eine Gesellschaft funktioniert nur solange, als diese Ausnahmen die Regel bestätigen. Und paradoxerweise vertrauen ja gerade die scheinbar hypermisstrauischsten Menschen sehr oft den allerdubiosesten Quellen.

Wem vertrauen Sie?

Das Internet bietet ein breit gefächertes Angebot an Informationsmöglichkeiten. Dies erschwert aber gleichzeitig den Durchblick. Besonders in der Zeit einer Pandemie, die einhergeht mit der weitreichenden Streuung von Halbwissen und Fehlinformationen. Ich vertraue deshalb seriösen Medien, zum Beispiel der «Republik», der FAZ, dem Tagi, der NZZ, also wenn sie sich nicht gerade feuilletonistisch über den Virus ergiesst, und auch dem «Blick». Gleichzeitig ist mir aber auch bewusst, dass ich nicht alles, was ich im Leben benötige, auch kontrollieren kann. Ich vertraue also darauf, dass der Bankautomat kein Falschgeld ausspuckt und dass, wenn ich eine Überweisung tätige, die Bank mir nicht den doppelten Betrag von meinem Konto abbucht.

Wie wichtig ist Ihnen persönlich die Kontrolle zu haben oder zu behalten?

Mir ist wichtiger, nicht zu oft in Situationen zu geraten, in denen ich persönlich bewusst kontrollieren muss.

Wie meinen Sie das?

Ich schätze es, dass mein Kreditkartenunternehmen mich anruft, wenn die bemerken, dass es auf meinem Konto eine dubiose Abbuchung gab. Hingegen finde ich die ständige Kontrolliererei vor einer Flugreise zunehmend mühsam. Da ist man eh schon im Stress vor der Abreise und dann muss ich mir noch überlegen, ob ich alle Medikamente in das vorgeschriebene Plastikbeutelchen verpackt habe und sich nicht irgendwo in meinem Handgepäck noch ein unzulässiges Sackmesser versteckt. Am angenehmsten lebe ich, wenn ich in einer vertrauenswürdigen Umgebung einfach so vor mich hinwursteln darf (lacht).

«Ich empfinde die Schweiz nicht vor allem als Überwachungsstaat»: Peter Schneider.
«Ich empfinde die Schweiz nicht vor allem als Überwachungsstaat»: Peter Schneider.
Bild: Keystone

Bevor Sie das Haus verlassen, kontrollieren Sie jeweils nochmals speziell, ob der Herd ausgeschaltet ist und ob auch wirklich alle Fenster geschlossen sind?

Früher habe ich das öfter getan, heute verlasse ich mich verstärkt auf mein Gedächtnis. Mit dem Älterwerden hat sich meine Zwanghaftigkeit sehr gemildert.

Fakt ist: Es gibt mehr staatliche und polizeiliche Kontrollen und Kameraüberwachung und Handytracing sind Realitäten. Was macht diese Kontrolliererei mit uns?

Das hängt davon ab, wo diese Kontrolliererei stattfindet. In London gibt es seit Jahrzehnten eine flächendeckendere Videoüberwachung. Eklatante Missbräuche dieses Systems kenne ich nicht. China hat ein gigantisches digitales Überwachungssystem aufgebaut, das sich in allen Lebensbereichen ausbreitet und das Teil einer Unterdrückungsmaschinerie ist. Das Gefährliche daran ist, dass diese Systeme oft unbemerkt funktionieren – ausser sie erwischen einen.

Wie sieht es in der Schweiz mit der Überwachung aus?

Ich empfinde die Schweiz nicht vor allem als Überwachungsstaat. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man bei diesem Thema dranbleibt. Ich bin deshalb froh um Journalisten*innen, die darüber recherchieren und schreiben, nicht zuletzt auch deshalb, damit ich als Bürger sehr oft verstehe, worum es genau und wann etwas zu weit geht. Ich mache Ihnen ein Beispiel: Im vergangenen Frühling meldet die Stadtzürcher Polizei, dass sie am Seebecken Partygänger mit Kameras überwachen werden, nachdem es in der Vergangenheit dort immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen ist. Mit dieser Art von Überwachung habe ich kein Problem. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Behörden vorab über den Einsatz der Kameras informiert haben.

Das neue Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus hingegen empfinden Sie als einen Übergriff?

Ja, das ist ein zu grosser Übergriff in die Privatsphäre. Obwohl ich gleichzeitig verstehe, warum so eine Vorlage nötig sein kann. Ich finde jedoch, das aktuelle Gesetz ist eine Carte blanche für die Überwachung, und das darf nicht sein. Aus ähnlichen Gründen lehnte ich im vergangenen März auch die Sozialdetektive-Vorlage in Zürich ab. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte damit Sozialhilfebetrug nicht bagatellisieren. Das Ziel, einen Betrug zu verhindern, rechtfertigt aber noch lange nicht alle Mittel, die dagegen eingesetzt werden sollten.

Verstehen Sie, dass manchen Menschen die ständige Kontrolliererei auf die Nerven geht?

Ja. Aber ich finde es seltsam, sich über Sicherheitsmassnahmen in einer Pandemie zu nerven, wenn man schon für die dusseligste Internet-Plattform ein Hochsicherheitspasswort braucht, dass sich keine Sau merken kann.



Im Mai 2020 habe ich Sie, Herr Schneider, gefragt, ob die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft grundsätzlich verändern wird. Damals antworteten Sie mit Nein. Wie lautet heute Ihre Antwort?

Für mich ist auf alle Fälle klar: Durch die nächste Krise möchte ich lieber nicht mehr von den jetzigen Behörden und Institutionen geführt werden. Es ist nicht so, dass ich dem Bundesrat oder dem Bundesamt für Gesundheit grundsätzlich nicht mehr traue, aber dieses Hickhack in den vergangenen zwei Jahren zwischen Bund und Kantonen fand ich – sehr gelinde gesagt – unschön. Damit wurde derart viel behördliches Laientheater sichtbar, dass heute im Land eine allgemein Entnervtheit spürbar ist. Ja, ich möchte das nächste Mal sicher nicht mehr mit einem Daniel Koch derart vertrauensselig in eine Krise reinschlittern.

Sind Sie der Meinung, der Bundesrat hätte härter durchgreifen müssen?

Es geht weniger um das harte Durchgreifen, sondern vielmehr um bedachteres Handeln. Ich finde, nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie müssten die Behörden doch mindestens gelernt haben, wie wichtig das Vorausschauen in einer Krise ist.

Sind Sie für die Impfpflicht?

Erfahrungen aus früheren Pandemien zeigen: Impfen schützt. Deshalb denke ich, das wäre eine erwägenswerte Sache. Eine Impfpflicht heisst ja nicht, dass Menschen gefesselt und geknebelt werden, damit sie geimpft werden können. Sondern es geht darum, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, Bussen zahlen und da und dort Nachteile im alltäglichen Leben auf sich nehmen müssen. Freilich muss man sich auch hier fragen, wie ein solches Bussensystem sozial gerecht gestaltet werden könnte.