Kolumne am Mittag Es sollte in der Familie bleiben – dank der Schwester weiss es nun alle Welt

Von Bruno Bötschi

1.6.2021

Die Veröffentlichung des Buches «Die grosse Familie» kam in Frankreich einem politischen Erdbeben gleich.
Die Veröffentlichung des Buches «Die grosse Familie» kam in Frankreich einem politischen Erdbeben gleich.
Bild: Getty Images

Selten hat ein Buch ein derartiges Beben in der Pariser Elite ausgelöst: Camille Kouchner, Tochter eines ehemaligen Aussenministers, enthüllt einen Fall von Inzest – ihr Stiefvater missbrauchte ihren Zwillingsbruder.

Von Bruno Bötschi

1.6.2021

Sie habe ihrem Bruder damals gesagt, dass das schon nicht so schlimm sein würde. «Es war ja unser Stiefvater. Der würde uns ja schon nichts Böses antun, der wolle ihm vielleicht nur etwas beibringen», erzählt Camille Kouchner im Interview mit dem «Spiegel».

Begonnen hat der Inzestfall, als der Bruder 13 oder 14 Jahre alt war. Abend für Abend sei der Stiefvater in den Ferien in dessen Kinderzimmer geschlichen. Camille Kouchner hörte seine Schritte auf dem Flur.

Die Familie Kouchner-Duhamel gilt als Inbegriff der Pariser Elite. Bernard Kouchner, der leibliche Vater der beiden Kinder, ist der Gründer von «Medecins sans Frontières» und war von 2007 bis 2010 französischer Aussenminister.

Seine erste Frau Evelyne Pisier arbeitete als Politikprofessorin und ihr zweiter Mann Olivier Duhamel, also der Täter, ist ein berühmter Politologe. Aus den Verbindungen gehen sechs Kinder hervor, und ein grosser Kreis von Verwandten und Freunden bildet einen einflussreichen Clan.

Das Fatale beim Inzest

Jahr für Jahr verbringen Camille und ihr Zwillingsbruder Victor mit Mutter Evelyne Pisier und Stiefvater Olivier Duhamel die Sommerferien an der Côte d’Azur. Bis die Tochter realisiert, dass sich der Stiefvater an ihrem Bruder vergeht. «Ich habe Jahre gebraucht, um zu erfassen, was mein Stiefvater getan hat. Und dann kamen die Schuldgefühle, dass ich es einfach habe geschehen lassen.»

Irgendwann vertraut sich Victor seiner Schwester an. Sie behält das Geheimnis für sich. Sie hat es ihrem Bruder versprochen. Sie beginnt irgendwie mit der Lüge zu leben, weil sie nicht noch mehr kaputt machen will. «Das ist das Fatale beim Inzest: Die Täter sind die Menschen, die Sie lieben, die Sie nicht verlieren wollen,» sagt Kouchner im «Spiegel».

Drei Jahrzehnte lang ist sie gefangen in diesem schrecklichen Schweigen.

Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2017 hält es Camille Kouchner nicht mehr länger aus. Sie fängt an zu schreiben. Alle Protagonisten, die sie in ihrem Buch «Die grosse Familie» erwähnt, sind Mitglieder eines illustren, mächtigen Pariser Clans, der sogenannten familia grande.

Als das Buch zu Beginn des Jahres in Frankreich erscheint, erschüttert es das politische Paris. Täter Duhamel tritt sofort von all seinen Ämtern zurück. Andere werden ihm folgen.

«Aber es geschah nichts»

Die Autorin hat ihren Bruder vor der Veröffentlichung des Buches natürlich informiert. Er durfte vorab die erste und zweite Fassung lesen. «Für ihn ist es sehr schwer, das alles noch einmal zu erleben.» Kouchner glaubt, dass ihr Bruder ein solches Buch wohl nie hätte schreiben können, aber er habe ihr das Recht anerkannt auf ihre Erzählung.

Bekannt war der Missbrauchsfall in Paris übrigens schon länger. Eine Tante, die Schauspielerin Marie-France Pisier, hatte die Mutter schon 2008 bekniet, den Täter zu verlassen. Die winkte jedoch ab, verteidigte stattdessen ihren Mann. Er habe den Stiefsohn ja nicht zum Geschlechtsverkehr gezwungen, sondern «nur» zur oralen Befriedigung.

In der Folge habe die Verwandte die schreckliche Geschichte in ihrem Umfeld erzählt. «Einige wenige haben sich von ihm (dem Stiefvater, Anmerkung der Redaktion) distanziert, aber die meisten machten weiter wie bisher. Ihr Schweigen war erbärmlich, aber es hat mich nicht sehr überrascht.» Sonst sei nichts geschehen. «Rein gar nichts», so Camille Kouchner im «Spiegel».

Bis heute.

Seit ihr Buch, das seit Kurzem auch in deutscher Übersetzung vorliegt, erschienen ist, berichten unter dem Hashtag #MeTooInceste Tausende Inzestopfer auf Twitter über ihre schrecklichen Erfahrungen. Und Mitte April hat die französische Nationalversammlung ein neues Gesetz zum Schutz von Kindern verabschiedet: Neu gilt auch in Frankreich Oralverkehr mit Minderjährigen als Kindesmissbrauch.

Bibliografie: Die grosse Familie, Camille Kouchner, 190 Seiten, Blessing, 29.90 Franken

Regelmässig gibt es werktags um 11.30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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