Kolumne am Mittag Esprit und Eier – Motörhead-Chef Lemmy Kilmister hatte beides

Von Gil Bieler

28.12.2020

Lemmy Kilmister bei einem Auftritt mit Motörhead im Jahr 2013 in Crans-sur-Nyon. 
Lemmy Kilmister bei einem Auftritt mit Motörhead im Jahr 2013 in Crans-sur-Nyon. 
Bild: Keystone/Laurent Gillieron

Heute vor fünf Jahren ist die Welt ein ganzes Stück leiser geworden – und langweiliger: Mit Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister verstarb einer der grössten und vielschichtigsten Rock’n’Roller.

«We are Motörhead, and we play Rock and Roll!» Im Juni 2015 spielt die legendäre britische Rockband zum letzten Mal ein Konzert in der Schweiz. Wissen kann das damals zwar niemand so genau, doch ahnen dürften es die meisten. Frontmann Lemmy Kilmister sieht auf der Bühne deutlich älter aus als die 69 Jahre, die er zählt.

Man staunt: All die Drogen, der Suff, der Sex und der Rock’n’Roll-Zirkus haben ihn also doch noch eingeholt.

Vieles an diesem Sommertag am Greenfield-Openair ist wie immer bei Motörhead. Die Verstärker sind so weit aufgedreht, dass im Publikum die Hosenbeine flattern. Die Setlist kann der 40-jährigen Bandgeschichte gar nicht gerecht werden. Doch weil Lemmy mit der Gesundheit zu kämpfen hat, schleichen sich viele langsamere Nummern ein, damit der Boss kurz durchatmen kann. 

Der vermeintlich unzerstörbare Mann mit Hut, Schnauzer und der markanten Reibeisenstimme wirkt zerbrechlich, wie er seinen Rickenbach-Bass umklammert hält, und alt. Die Stimme klingt angestrengt. Doch Motörhead ziehen ihren Stiefel durch, bis zum Ende. Die Fans lieben es.

Ein Unikat

Ein halbes Jahr später, am 28. Dezember 2015, stirbt Lemmy daheim in Los Angeles. Nur wenige Tage nach seinem 70. Geburtstag und einer Krebsdiagnose. Die Rockwelt trauert um eine ihrer prägendsten Figuren, die Beisetzung wird zum Treffen der ganz Grossen der Szene: Rob Halford von Judas Priest ist da, Slash, Ozzy Osbourne, Lars Ulrich von Metallica – sie alle erweisen Lemmy die letzte Ehre. Fans in aller Welt, auch der Kolumnist, verfolgen das Ganze via Youtube live mit.

Laut und räudig: So klangen Lemmy und Motörhead.

Youtube

Es gibt so viele Anekdoten zu Lemmy, nur schon ein Best-of würde jeden Rahmen sprengen. Am bekanntesten ist wohl jene, dass sein Arzt ihm von einer Infusion von frischem Blut abriet, da dies für seinen vergifteten Körper ein Schock wäre. Ob das nun stimmt oder reine Legendenbildung ist, Lemmy war ein Unikat. Er lebte nach seinen eigenen Regeln, und als rauchender, zockender, Whisky-trinkender Bastard auch den Traum von Legionen von Musikern und Musikfans. Jahrzehntelang!

Nachdem ihm ein Herzschrittmacher eingesetzt worden war, meinte er 2013 mit seinem typisch lakonischen Humor: Das komme wenig überraschend. «Ich war nie ein guter Junge. Ich hatte zu viel Spass.» Das kann redlich behaupten, wer noch mit Jimi Hendrix (!) LSD geschluckt hat.

Kluger Kopf

Nebst all den Eskapaden geht gerne vergessen, was für ein belesener und kritischer Beobachter des Weltgeschehens Lemmy war. «Ich verstehe Leute nicht, die glauben, wenn man etwas ignoriere, dann verschwinde es. Das ist komplett falsch – wenn es ignoriert wird, wird es nur stärker. Europa hat Hitler 20 Jahre ignoriert», schreibt er in seiner Autobiografie.

Über Religion urteilte er mehr als einmal, sie sei bescheuert: «Eine Jungfrau wird von einem Geist geschwängert? Damit würde man bei keiner Scheidung durchkommen, oder?» Und über Freundschaft sprach der weise Mann: «Ein guter Freund ist jemand, der dich verstecken würde, wenn du wegen Mordes gesucht wirst. Wie viele davon kennst du?» Das «Rolling Stone»-Musikmagazin hat solche Weisheiten schick zusammengetragen.

Was auch immer Lemmy über das Brexit-Drama, Trump und die Corona-Krise gedacht hatte, werden wir leider nie erfahren. Das schmerzt besonders. Doch bevor hier noch der Eindruck entsteht, Lemmy wäre ein verkopfter Cüplischlürfer gewesen: war er nicht. Ist Rock’n’Roll Kunst, wollte die «Süddeutsche Zeitung» von ihm wissen. «Nein! Nein!!», verwehrte er sich. Sondern? «Ein Gefühl. Hier unten. In den Eiern.»

Lemmy, deine Musik fehlt, dein Witz  – und deine Eier. Rock in Peace, alter Haudegen.

Regelmässig gibt es werktags um 11:30 Uhr und manchmal auch erst um 12 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – es dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.

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