Kolumne «Ich habe die Sexarbeit nie als übermässig belastend erlebt»

Von Lena Morgenroth

25.11.2019

Lena Morgenroth hat erfolgreich Informatik studiert, bevor sie ihr Leben für einige Jahre der Sexualität verschrieben hat. Über ihre Arbeit als Sexarbeiterin schrieb sie einen Blog und erzählte 2016 im Dokumentarfilm «SEXarbeiterin» (Bild) darüber. Heute arbeitet Morgenroth wieder in der IT.
Lena Morgenroth hat erfolgreich Informatik studiert, bevor sie ihr Leben für einige Jahre der Sexualität verschrieben hat. Über ihre Arbeit als Sexarbeiterin schrieb sie einen Blog und erzählte 2016 im Dokumentarfilm «SEXarbeiterin» (Bild) darüber. Heute arbeitet Morgenroth wieder in der IT.
Bild: zVg

Jeder Mensch hat bestimmte Bilder im Kopf, wenn es um das Thema «Sexarbeit» geht. Nur: Diese Bilder stimmen nicht immer. Eine ehemalige  Sexarbeiterin erzählt – und räumt mit Vorurteilen auf.

Als ich angefangen habe, Informatik zu studieren, hat niemand, aber auch wirklich niemand zu mir gesagt: «Aha, so Computerkram. Spannend. Aber denkst Du denn, dass Du das bis zur Rente machen wirst?»

Als Sexarbeiterin ist mir diese Frage unzählige Male gestellt worden. Die ehrliche Antwort war schon damals «wahrscheinlich nicht». Aber ich habe mich immer unwohl gefühlt, sie zu geben. Ich wollte keine Vorlage liefern für ein erleichtertes «ah, es war also doch nur eine Phase». Und erst recht keine für ein «ja, es ist eben so, dass man diesen Job nicht lange mitmachen kann».

Beide Reaktionen sind mir auch von ehemaligen Kunden entgegengebracht worden, als ich dann von der Sexarbeit in die IT wechselte. Kurz nach dem Wechsel schrieb mir ein Mann, der meine Dienste gern noch in Anspruch genommen hätte sinngemäss: «Schade für mich, aber zum Glück hast du die Kurve noch gekriegt. In dem Beruf hat man bestimmt mit vielen komischen Leuten zu tun. Das steckt man auf Dauer ja nicht weg.»

Ganz normale Männer und Frauen

Tatsächlich waren das oft die nervigeren Kunden: Die, die annahmen, dass die meisten anderen Kunden komisch, respektlos oder widerlich sind. Weil sie glaubten, dass ich es mit ihnen besonders gut getroffen hatte, meinten sie manchmal auch, ich müsste dafür besonders dankbar und entgegenkommend sein. Während in Wirklichkeit die meisten Kunden ganz normale Männer (und gelegentlich Frauen) waren, die einfach nur das in Anspruch nehmen wollten, was ich von mir aus anbot.



In jedem Fall habe ich die Sexarbeit nie als übermässig belastend erlebt. Für mich war sie am Anfang eine tolle Möglichkeit, meine eigene Sexualität zu entdecken. Ich habe Selbstvertrauen gewonnen und mich an Lust und Begehren satt gegessen.

Später war es eine Arbeit, die mir eben leicht fiel. Ausserdem wurde mir bisher in keinem anderen beruflichen Zusammenhang je so viel Wertschätzung und Dankbarkeit zuteil wie durch meine Sexarbeitskunden. Als ich in der IT anfing, habe ich das am Anfang bitter vermisst – und das, obwohl ich immer Chefs hatte, die auch Lob und positives Feedback formuliert haben.

Meist angenehme menschliche Kontakte

Die Sexarbeit hat mir meist angenehme menschliche Kontakte beschert, aber ab und an auch nervige. Unangenehm fand ich die, die Lust und Zuwendung nicht annehmen konnten, ohne sich selbst glauben zu machen, wir stünden in einem weniger geschäftlichen Verhältnis zueinander. Illusionen wollte ich nicht verkaufen.

Lena Morgenroth über die Sexarbeit: «Für mich war sie am Anfang eine tolle Möglichkeit, meine eigene Sexualität zu entdecken. Ich habe Selbstvertrauen gewonnen und mich an Lust und Begehren satt gegessen.»
Lena Morgenroth über die Sexarbeit: «Für mich war sie am Anfang eine tolle Möglichkeit, meine eigene Sexualität zu entdecken. Ich habe Selbstvertrauen gewonnen und mich an Lust und Begehren satt gegessen.»
Bild: zVg

Anstrengend waren auch die, die permanent versuchten, meine Grenzen ein klein wenig weiter zu verschieben. Die Subtilen, bei denen nie ganz klar war, ob es Absicht war oder Tollpatschigkeit. Es war einfacher, diejenigen in die Schranken zu weisen, die Grenzen ganz offensichtlich und dreist überschritten haben.

Die verirrten sich aber nur selten in mein Studio. Meine Werbung war darauf ausgelegt, für die attraktiv zu sein, die menschlichen Kontakt auf Augenhöhe suchten. Wer im telefonischen Vorgespräch Wünsche hatte, die ich nicht erfüllen wollte, bekam keinen Termin. Wer mir im ersten Termin zu sehr auf den Keks ging, bekam keinen zweiten. Die Begegnungen waren nah und intim, aber jede für sich abgeschlossen. Die guten wie die schlechten waren auf maximal drei Stunden am Stück beschränkt. Abgrenzung war unter diesen Umständen einfach.

Körpermensch aber auch Kopfmensch

Im Gegensatz dazu sind die Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen im neuen Berufsfeld herausfordernder. Die waren in Summe bisher etwa so wie meine Kundinnen und Kunden: weit überwiegend angenehme, freundliche Menschen; daneben einige soziale Tollpatsche; sehr gelegentlich ein dreister Vollpfosten.

Aber als Angestellte kann ich nur in Grenzen entscheiden, mit wem ich zusammenarbeite. Ich kann meine Kollegen nicht nach der ersten anstrengenden Begegnung vor die Tür setzen. Nein, sie sitzen auch am nächsten Tag wieder neben mir am Schreibtisch, und ich muss mich weiter mit ihnen auseinandersetzen.



Trotz allem, was ich an der Sexarbeit zu schätzen weiss, bin ich neben Körpermensch aber auch Kopfmensch. Irgendwann fehlte mir die intellektuelle Stimulation. Von der ersten Ahnung bis zu meinem ersten Arbeitstag als IT-Beraterin vergingen knapp zwei Jahre. Am Ende habe ich mich manchmal ziemlich gelangweilt. Die Arbeit war dann mühselig. Gerade so, wie es Jahre vorher mühselig gewesen war, mein Studium zu Ende zu bringen, als ich schon meine Begeisterung für Erotikmassagen entdeckt hatte. Aber ich konnte nicht von jetzt auf gleich wechseln. Es hat Zeit gebraucht, mir klarzuwerden, was genau ich arbeiten will, und meine Kenntnisse aufzufrischen.

Ich musste auch, trotz Informatik-Diplom, erst Vertrauen gewinnen, dass ich einem Arbeitgeber etwas zu bieten habe. Sexarbeit wird oft nicht als valide Arbeit betrachtet. Sie gilt als Notlösung, um an Geld zu kommen, oder als Ausdruck gestörter Sexualität. Das verbaut den Blick darauf, dass Sexarbeitende – egal aus welcher Motivation sie der Tätigkeit nachgehen – professionelle Fähigkeiten erwerben, die sich auch in andere Berufe übertragen lassen.

Zwischen zwei getrennten Welten

Als ich meinen Arbeitsvertrag dann unterschrieben hatte, sagte einer meiner Kunden beim Abschied sinngemäss: «Du bist noch jung. Wenn Du nicht zu viel Aufhebens drum machst, ist in ein paar Jahren Gras darüber gewachsen.»

Es hat mich jedes Mal verletzt, wenn Menschen wohlmeinend geraten haben, dass ich über meine Jahre in der Sexarbeit am besten Stillschweigen bewahre. Dafür habe ich dabei zu viel Wertvolles gelernt. Für mich ganz persönlich, aber auch für den Beruf.

Erst im Laufe der letzten drei Jahre ist mir klar geworden, wie sehr ich von meinen Erfahrungen in der Sexarbeit auch in meinem IT-Job profitiere. Von der Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum wirtschaftlichen Denken, die mir sieben Jahre Selbständigkeit antrainiert haben. Von dem feinen Gespür für die Stimmung beim Kunden. Von der Fähigkeit, schnell eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Von der Übung darin, in angespannten Situationen nicht alles persönlich zu nehmen und professionell zu bleiben.

Ich bin heute glücklich in meinem neuen Beruf, in dem die Vorzüge und Herausforderungen so andere sind als in meinem alten, aber es war auch ein weiter Weg. Wie der Übergang zwischen zwei getrennten Welten. Die bürgerliche Welt anerkannter Arbeit einerseits, die ausgegrenzte Welt der Sexarbeit andererseits. Spannend finde ich sie beide.

Weil ich mich in beiden Welten heimisch fühle

Ich wünsche mir eine Durchlässigkeit zwischen diesen Welten. Ich möchte ganz selbstverständlich und ohne Grenzkontrolle hin- und herspazieren können. Ohne dass es jemand verwunderlicher oder bedauerlicher findet als, einen Jura-Studienabbruch, um Tischler zu werden, oder ein Jura-Studium nach der Tischlerlehre.



Diese Durchlässigkeit braucht es, damit Menschen, wenn sie mit der Sexarbeit aufhören wollen, den Weg nicht verbaut finden. Es braucht sie auch, damit Menschen, die es – sei es aus finanziellen Gründen oder Neugier – in die Sexarbeit zieht, einen guten, sicheren Einstieg finden.

Damit sie leicht an Informationen und Austausch kommen, anstatt vereinzelt und heimlich die ersten Schritte zu tun und unnötige Risiken einzugehen. Vor allem wünsche ich mir diese Durchlässigkeit aber auch für mich, weil ich mich in beiden Welten heimisch fühle. Weil ich Kopf- und Körpermensch bin, und nicht ausschliessen mag, eines Tages auch wieder Sexarbeit zu machen. Und danach – oder daneben! – wieder etwas Kopfigeres.

Zur Autorin: Lena Morgenroth aus Berlin begann während ihres Informatikstudiums als Erotikmasseurin zu arbeiten. Nach dem Studium arbeitete sie hauptberuflich und selbständig als Tantramasseurin und in einem Dominastudio. Über ihre Arbeit schrieb sie eine Blog und erzählte im Dokumentarfilm «SEXarbeiterin» darüber. Nach sieben Jahren Sexarbeit kehrte sie 2016 in ihr studiertes Fach zurück. Heute arbeitet sie als IT-Consultant. Hier erzählt sie von ihrem Wechsel aus der Sexarbeit in die IT.

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